Tabuthema Suizid

Man darf nicht sterben wollen

Ein Grablicht zu Allerheiligen im Herbst mit Blättern
Denn Menschen, die sterben wollen, brauchen unsere Hilfe, meint Martin Ahrends. © imago/McPHOTO
Von Martin Ahrends · 23.02.2015
Die Entscheidung eines Menschens, aus dem Leben gehen zu wollen, ist in unserer Gesellschaft nicht respektiert. Der Publizist Martin Ahrends widerspricht im Politischen Feuilleton dieser Haltung vehement. Auch wer sich töten wolle, müsse endlich mit Respekt behandelt werden.
Von einem Personenunfall ist die Rede, wenn sich jemand vor den Zug geworfen hat. Doch nicht nur die Bahn verschweigt den wahren Charakter dieser "Unfälle". Unter Journalisten hat sich in Deutschland ein Pressekodex etabliert, zurückhaltend über Schienensuizide und Suizide im Allgemeinen zu berichten. Wegen des sogenannten Werther-Effekts: In der Vergangenheit haben Suizide nach einer ehrlichen Berichterstattung zugenommen. So hat sich nach Bahnangaben die Zahl der täglichen Schienensuizide nach der Selbsttötung von Robert Enke deutlich erhöht.
Verschweigen, Wegsehen, Alleinlassen: Was ist das für ein traurig hilfloser Umgang mit denen, die aus dem Leben gehen wollen? Die verzweifelt einen Weg suchen und, wenn sie ihn endlich gefunden haben, unkalkulierbare Kollateralschäden hinterlassen?
Nur selten wird davon gesprochen
Meine Kollegin hat einer befreundeten Familie ihre dreijährige Tochter anvertraut, wie sie es öfter bei Dienstreisen tat, dann hat sie sich mit drei Flaschen ihres Lieblingslikörs eingeschlossen und den Gashahn aufgedreht. Ihre Nachbarn hatten großes Glück, dass nicht das ganze Haus in die Luft flog. Der Vater einer Mitschülerin hing eines Mittags tot im Wohnzimmer, seine halbwüchsige Tochter hat ihn entdeckt und albträumt noch heute davon. Jeder kennt solche Fälle, nur selten wird davon gesprochen.
Auch wer sterben will, muss seinen Todeswunsch verbergen, denn es gibt niemanden, der ernsthaft darüber reden will. Jedermann erschrickt, rückt ab, niemand lässt sich darauf ein. Sterben wollen ist ein großes Tabu. Wer sterben will, bleibt damit allein, auch mit den Plänen, wie es zu bewerkstelligen sei, sich aus der Welt zu schaffen. Allein wird der Zugfahrplan studiert, allein wird die Strecke inspiziert, allein macht man sich nachts auf den Weg, legt sich auf die Schienen und schiebt den Gedanken an die Folgen weit fort: Wenn man tot ist, kann man nicht mehr verantwortlich gemacht werden für den plötzlichen Zughalt, die Verspätung, das Trauma des Zugführers.
In der Wikipedia lese ich:
"Wenn der Suizident rechtswidrig und schuldhaft Leib oder Leben eines anderen Menschen oder fremde Sachen von bedeutendem Wert gefährdet, macht er sich laut § 315 StGB wegen eines gefährlichen Eingriffs in den Bahnverkehr strafbar. Der Tod des Suizidenten stellt jedoch ein Verfolgungshindernis dar, was zur Einstellung des Verfahrens nach § 260 Abs. III StPO führt."
Das Sterben wollen mit allem, was dazugehört bleibt in diesem merkwürdigen Zwielicht der Illegalität. Wie ist der Not, auch der Gewissensnot der Suizidalen abzuhelfen, die in ihrer Verlassenheit und Unbeholfenheit immer auch Folgeschäden hinterlassen, die sie zumeist gern vermieden hätten? Alle anderen menschlichen Bedürfnisse stehen längst im Licht der aufgeklärten Öffentlichkeit und sind institutionell geregelt. Nicht aber das Sterben wollen. Man darf nicht sterben wollen. Man darf wohl sein Kind nicht austragen wollen, man darf es nach der Geburt zur Adoption freigeben oder in eine Babyklappe legen. Mit derlei menschlicher Not können wir inzwischen zivilisiert umgehen. Warum wird die Entscheidung, aus dem Leben gehen zu wollen, nicht in ähnlicher Weise respektiert?
Sie hätten unsere Hilfe gebraucht
Die Deutsche Bahn und die Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer einigten sich im vergangenen Jahr auf neue Regelungen für Triebfahrzeugführer. Diesen soll ihr volles Gehalt weitergezahlt werden, wenn sie, traumatisiert durch einen Schienensuizid, berufsunfähig sind. Den betroffenen Überlebenden wird geholfen, während jede Hilfe zu spät kommt für diejenigen, die aus dem Leben gehen wollten und sich in ihrer Ratlosigkeit vor den Zug legten. Sie hätten unsere Hilfe gebraucht. Vor allem und zuerst aber unsere Akzeptanz.
Martin Ahrends, Autor und Publizist, geboren 1951 in Berlin. Studium der Musik, Philosophie und Theaterregie. Anfang der 80er-Jahre politisch motiviertes Arbeitsverbot in der DDR.
Martin Ahrends
Martin Ahrends© privat
1984 Ausreise aus der DDR. Redakteur bei der Wochenzeitung "Die Zeit" und seit 1996 freier Autor und Publizist.
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