Täglich schwulenfeindliche Kommentare

Von Bettina Kaps · 19.06.2013
Heute geht es Gildas gut, weil er Unterschlupf beim Verein "Le Refuge" gefunden hat. Doch vor einigen Monaten wurde das Leben des junge Franzosen auf den Kopf gestellt: Seine Pflegeeltern verstießen ihn, weil er schwul ist. Wie ihm geht es vielen Homosexuellen, das Klima im Land ist feindlich.
Gildas sitzt auf dem hellgrünen Sofa, schmiegt sich an seinen Freund. Der blonde junge Mann mit dem akkuraten Kurzhaarschnitt strahlt übers ganze Gesicht.

"Ich schwimme im Glück! Erst habe ich mich in Julien verliebt, dann hat mich der Verein Le Refuge aufgenommen. Hier bin ich mit freundlichen Menschen zusammen, die jederzeit für mich da sind. Mir geht es jetzt richtig gut."
Vor sechs Monaten war das völlig anders. Da lebt Gildas bei seinen Pflegeeltern in der Normandie, die ihn als Baby aufgenommen haben, besucht die Berufsschule. Durch einen Zufall erfahren die Zieh-Eltern, dass der 20-Jährige schwul ist. Von einem Tag auf den anderen betrachten sie ihn nicht mehr als ihren Sohn. Gildas greift nach der Hand seines Freundes.

"Am Wochenende musste ich immer verschwinden, weil sie da keinen Homosexuellen im Haus haben wollten. Ich musste meine Kleider separat waschen, sie könnten ja ansteckend sein. Den jüngeren Pflegekindern durfte ich nicht mehr in die Nähe kommen - Homosexualität und Pädophilie, das ist für diese Leute dasselbe. Ich wurde beschimpft und beleidigt. Dabei waren wir uns vorher so nah. Plötzlich war ich ein Fremder für sie, obwohl ich über 19 Jahre lang bei ihnen gelebt habe."

Eines Tages hält er es nicht mehr aus, packt eine Reisetasche, geht nach Paris. Gildas schlüpft bei der Mutter seines Freundes unter und schreibt sich in einer neuen Berufsschule ein. Obwohl er sich nicht outet, hört er in der Klasse täglich schwulenfeindliche Kommentare. Das Thema ist an der Tagesordnung, weil die Regierung die Homo-Ehe legalisiert. In der Nähe seiner Schule wird ein schwules Paar brutal zusammengeschlagen. Inzwischen ist das Gesetz verabschiedet, aber die Proteste hören nicht auf.

"Zuvor hatte ich geglaubt, Frankreich wäre ein offenes Land. Aber jetzt habe ich das wahre Gesicht vieler Franzosen entdeckt. Es tut weh, in einem solchen Land leben zu müssen."

In Paris hat Gildas den Verein Le Refuge aufgesucht, auf Deutsch "Zuflucht". Hier hat ihn Clio Leonard empfangen. Gildas zeigt auf eine junge Frau, die am Schreibtisch sitzt, schräg gegenüber von der Sitzecke mit dem hellgrünen Sofa. Clio nimmt die Anrufe junger Homosexueller entgegen, die völlig verzweifelt sind.

Clio Leonard: "Von seiner eigenen Familie verstoßen zu werden, das ist wohl das Schlimmste, was einem jungen Menschen passieren kann, noch dazu wegen einer sexuellen Orientierung, die man sich nicht aussucht. Bei uns suchen jede Woche rund drei junge Leute nach einer Unterkunft. Wir haben aber nur 21 Zimmer, und die sind alle besetzt. Heute haben wir sogar fünf Anfragen bekommen, das ist enorm."

Gildas hat Glück. Sechs Monate kann er jetzt in einem Zimmer des Vereins leben, dort zur Ruhe kommen und seine Zukunft planen. Le Refuge hilft ihm dabei. Zweimal pro Woche treffen sich alle Schützlinge mit den Angestellten und ehrenamtlichen Helfern in den gemütlichen Räumen des Vereins zum Abendessen und zum Reden.

Ein Junge deckt den großen Tisch: Kurze blonde Haare, Karo-Hemd, Jeans, ein paar Pickel im Gesicht - mit seinen 17 Jahren ist Nicolas der Jüngste hier. Als Einziger wohnt er noch zu Hause.

"Meine Mutter will, dass es niemand erfährt. Für sie ist es eine Schande. Sie verlangt, dass ich 'normal' bleibe, keine weiblichen Züge annehme oder extravagant werde. Ich soll wie ein Hetero aussehen."

Bei den Eltern ist es noch erträglich, sagt er, aber in der Schule fühlt er sich wie im Krieg. In seiner Klasse ist Homosexualität ein Dauerthema.

"Letzte Woche haben sie eine Flasche Cola über mir ausgeleert. Und dann kommt der Schlimmste von allen, stellt sich vor meinen Tisch, zieht die Jeans ein bisschen runter und sagt: Willst du meinen Pimmel lutschen?"

Nicolas lässt sich auf einen Stuhl fallen. Auf dem Tisch stehen Reissalat, Baguette und Schinken. Kürzlich hat er eine ganze Schachtel Schlaftabletten geschluckt. Jetzt wird er vom Psychologen des Vereins Le Refuge behandelt. Bei den Gruppen-Treffen schaltet er ab, hier ist er wenigstens nicht in feindlicher Umgebung wie draußen, wo er seit den Demonstrationen keinem mehr über den Weg traut.

Ein Mitarbeiter des Vereins fordert die Anwesenden auf, sich kurz vorzustellen. Es sind wieder Neue dabei, verunsichert von dem Hass, der sich plötzlich auf Homosexuelle richtet. Zum Beispiel Tiffani, eines der wenigen Mädchen hier. Schwarze Baseballmütze, abrasierte Schläfen. Die 19-Jährige sieht aus wie ein halbwüchsiger Junge. Ihre Unterarme sind voller Ritznarben. Tiffani wohnt noch in einem Obdachlosenheim. Adam hat mehr Glück: Der schmale junge Mann hat vor acht Tagen ein Zimmer bekommen.

Adam: "Ich musste nur anderthalb Wochen warten. Es ist etwas vorgefallen, was meinem Fall besonders dringlich gemacht hat, aber ich bin noch nicht so stark, dass ich darüber sprechen kann."

Ein Gast berichtet: "Adam ist 21 Jahre alt. Vor einem Jahr hat ihn sein Vater, ein gläubiger Muslim, auf die Straße gesetzt. Adam hat sich allein durchgeschlagen."

Das ist jetzt vorbei, sagt er, und nimmt sich eine ordentliche Portion Reissalat. In zwei Tagen hat ihm Le Refuge ein Vorstellungsgespräch für eine Berufsausbildung bei Air France organisiert.

"Ich hoffe, dass für mich jetzt ein neues Leben beginnt. Ich habe ein eigenes Zimmer und, bin unabhängig. Welch ein Glück, dass es Le Refuge gibt. Diese Chance will ich jetzt nutzen."