Jüdische Kulturrouten in Deutschland

Tägliche Stationen im Alltag

09:52 Minuten
Zu sehen ist der Gedenkstein für die am 9. November 1938 niedergebrannt Synagoge in Hannover. Neben einem hebräischen Text ist die Silhouette der Synagoge zu sehen.
Vertreterinnen und Vertreter des Verbands der Jüdischen Kulturrouten Europas haben sich in Hannover getroffen. Der Gedenkstein für die am 9. November 1938 niedergebrannte Synagoge war eine Station bei der Führung durch die Stadt für sie. © IMAGO / ecomedia / robert fishman
Von Robert B. Fishman · 16.09.2022
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In 19 europäischen Ländern gibt es Routen und Projekt-Netzwerke, die Spuren jüdischen Lebens folgen und diese wieder erfahrbar machen. Seit Ende letzten Jahres ist auch Deutschland mit dabei.
Peninah Zilberman liest die hebräische Inschrift am Gedenkstein für die 1938 zerstörte Synagoge in Hannover vor.
Zilberman ist als Vertreterin der Stiftung Tarbut zum Jahrestreffen des Verbands der Jüdischen Kulturrouten Europas, AEPJ, nach Hannover gekommen. Europäische Kulturrouten sind reale oder virtuelle Verbindungen zwischen Orten und Stätten, die der Europarat als Kulturrouten zertifiziert hat.
Neben vielen anderen gibt es europaweit auch viele Jüdische Kulturrouten. Anlässlich ihres Jahrestreffens in Hannover machen deren Vertreterinnen und Vertreter eine Stadtführung auf jüdischen Spuren durch die niedersächsische Landeshauptstadt.

Reisen zu der vergangenen Familie

Peninah Zilberman lebt in Israel und Rumänien. Von dort stammt ihre Familie. „Ich habe die Stiftung Tarbut gegründet. Das heißt Kultur. Vor allem für die Nachkommen jüdischer Familien aus dem nördlichen Rumänien bieten wir Reisen auf den Spuren ihrer Familiengeschichte an. Außerdem betreiben wir Ahnenforschung.“
Die Stiftung Tarbut ist eine Einrichtung der Jüdischen Kulturrouten in 19 Ländern Europas. Ende der 80er-Jahre hat der Europarat damit begonnen, Routen als Europäisches Kulturerbe anzuerkennen. Die erste war der Jakobsweg  durch den Norden Spaniens.
Später folgten Netze aus verschiedenen Einrichtungen und Kultur-Angeboten, die nicht über einen Weg miteinander verbunden sein müssen – so etwa Orte der Hanse, der Reformation, der Wikinger, historische Gärten – der eben jüdische Kulturrouten.

Überall hat jüdisches Leben Spuren hinterlassen

Anke Biedenkapp ist die Geschäftsführerin des Vereins Global Partnerships, der den deutschen Beitrag zu den Jüdischen Kulturrouten Europas entwickelt.
„Das heißt, im Gegensatz zum Jakobsweg, wo es ein definiertes geografisches Ziel gibt, ist es ja im Judentum so, dass überall jüdisches Leben mal gewesen ist, aber oft dann verfolgt und vernichtet wurde", erklärt sie das Konzept. "Und unter Bezugnahme auf nicht mehr existierendes jüdisches Leben, was aber Spuren hinterlassen hat in Gebäuden oder in Strukturen, und in Bezugnahme auf heutiges jüdisches Leben, versuchen wir in Form von virtuellen Bausteinen das sichtbar und erlebbar zu machen, was jüdisches Leben früher und heute ausmacht.“

Künstlerische Auseinandersetzung mit damals und heute

Dazu zählen auch Veranstaltungen wie der Kompositionswettbewerb Jüdische Musik, Poetry-Slam-Wettbewerbe, ein Filmfest oder Fotoworkshops. „Wir haben angefangen mit ‚Click and Walk‘-Foto-Workshops, wo die Teilnehmenden dann aus ihrer Perspektive Dinge festgehalten haben, die sie mit jüdischem Leben verbinden. Und das Ganze wurde dann in eine Ausstellung übertragen.“
Global Partnership-Geschäftsführerin Anke Biedenkapp nennt drei Ziele dieser Projekte: „Das vergangene jüdische Leben noch einmal zu vergegenwärtigen, welche Bedeutung es für die gesellschaftliche Entwicklung gehabt hat; das Zweite ist, die Lebenswelten heute darzustellen; und schließlich wollen wir mit sehr unterschiedlich kreativen Methoden dazu beitragen, uns sehr dezidiert gegen den Antisemitismus zu positionieren.“

Fundraising als Alternative

Auch in der Ukraine entsteht eine solche Jüdische Kulturroute: Die Organisation Heritage Springs hat im vergangenen Herbst damit begonnen, alte Synagogen im Südwesten der Ukraine zu restaurieren. Seit dem russischen Einmarsch in die Ukraine ruht das Projekt allerdings.
Darcy Stamler ist eine der Initiatorinnen. Sie lebt in den USA, ihre Familie stammt aus dem ehemaligen Galizien im Südwesten der heutigen Ukraine. Stamler sammelt jetzt Spenden für die Kriegsopfer. „Wir sammeln Geld in den USA und anderen Ländern und bringen es selbst in die Ukraine. Dort arbeiten wir mit Einzelpersonen und Organisationen zusammen, die mit den Spendengeldern Hilfsgüter kaufen und diese an Geflüchtete verteilen, Juden und Nichtjuden, wer auch immer Hilfe braucht.“
In Galizien lebten bis zum Einmarsch der Nazi-Wehrmacht 1941 besonders viele Jüdinnen und Juden. „Wir arbeiten seit einigen Jahren mit der jüdischen Gemeinde in Iwano-Frankiwsk eng zusammen. In der Stadt leben etwa 300, 350 Jüdinnen und Juden. In der Oblast, dem Regierungsbezirk, sind es etwa 750. Immer mehr heben die Hand und sagen, ja, ich bin jüdisch. Sie zögern damit nicht mehr.“
Wie viele von ihnen nach dem Krieg noch in der Gegend leben werden, weiß Stamler natürlich auch nicht.

In Deutschland wird Hershel Grynspan gedacht

In Hannover folgt Stamler zusammen mit Vertreterinnen und Vertretern Jüdischer Kulturrouten in Südbaden, im Elsass, in Luxemburg, Katalonien, Georgien und weiteren Ländern der Stadtführung zu den Spuren jüdischen Lebens in Hannover.
Die Gruppe steht in der Straße, in der Hershel Grynspan aufgewachsen ist. Stadtführerin Edel Sheridan-Quantz erzählt seine Geschichte. „Viele von Ihnen, nein, wahrscheinlich Sie alle wissen, dass die Nazis für ihr Verbrechen von 1938 einen Vorwand hatten. Sie behaupteten, dass die Deutschen aus Wut über die Tat dieses jungen Mannes Synagogen, jüdische Geschäfte und Einrichtungen angegriffen hätten. Es war Hershel Grynspan oder Herbert Grünspan, der am 7. November 1938 den Sekretär der deutschen Botschaft in Paris erschossen hatte.“
Grynspans Anschlag lieferte den Schergen des Nazi-Regimes den Vorwand für die Terrornacht vom 9. auf den 10. November 1938. Der braune Mob zündete zahlreiche Synagogen in ganz Deutschland an. Viele Juden wurden ermordet, andere verhaftet und in Konzentrationslager verschleppt: Der Beginn der physischen Vernichtung jüdischer Menschen in Deutschland. Die Spur von Hershel Grynspan verlor sich im Holocaust.

Geschichte selbständig erschließen

Die Stadtführung auf jüdischen Spuren durch Hannover endet im „ZeitZentrum Zivilcourage“, einem interaktiven Dokumentationszentrum der Stadt Hannover zur Geschichte der Schoa und zu Fragen der Zivilcourage.
„Das Besondere ist zum einen, dass wir keine Gedenkstätte sind. Es ist kein historischer Ort zum Beispiel der jüdischen Kultur oder kein historischer Ort der Verfolgung“, erklärt Stadtführerin und ZeitZentrum-Mitarbeiterin Edel Sheridan-Quantz.
„Das Besondere hier ist, dass man keine fertige Geschichte präsentiert bekommt, sondern dass man sie sich selber erkunden muss", sagt sie. "Es geht darum, was sie sich selber zusammensuchen aus den Lebensgeschichten.“

Verschiedene Perspektiven auf Vergangenes

An einer großen Wand sind auf Drehgestellen Porträts von Menschen montiert, die im Zweiten Weltkrieg gelebt haben, darunter viele Opfer der Shoah und Überlebende. Dahinter kommen Auszüge aus deren Lebensgeschichten zum Vorschein. In Schubladen liegen Dinge aus den Leben dieser Menschen. Mit ihnen können Besucherinnen und Besucher im ZeitZentrum Zivilcourage auf Spurensuche gehen.
„Welche Position hat jetzt diese Person in der Gesellschaft gehabt? Welche Möglichkeiten hatte er oder sie? Welche Entscheidungsmöglichkeiten? Haben sie es zum eigenen Vorteil oder zu anderen Zwecken genutzt? Und dass Sie über dieses, erst mal selbstständige Erkunden, eine andere Beziehung zu den Inhalten aufbauen.“
Eine Installation mischt, je nach Blickwinkel, den Blick auf einen zentralen Platz in Hannover Mitte der 30er-Jahre und heute. Damals und Jetzt-Zeit gehen nahtlos ineinander über.
Auch ein interaktiver Netzplan des örtlichen Straßenbahnbetreibers üstra verbindet Vergangenheit und Gegenwart. Wenn man darauf einen Stecker in eine der angezeichneten Haltestelle steckt, bekommt man den historischen Hintergrund zu diesem Ort erklärt.
“Da erkennt man zum einen die Stationen, die man vielleicht selber täglich auf dem Weg zur Arbeit und Schule fährt oder die vor der eigenen Haustür sind. Und jede der 45 Personen hat eine eigene Haltestelle sozusagen, die etwas mit ihrem Leben zu tun hat. Und wenn man hier den Stecker reinsteckt, ist man da.“

Judenhass durch Aufklärung vertreiben

„Gegenüber der Haltestelle liegt die Gedenkstätte Ahlem der Region Hannover neben der Justus-von-Liebig-Schule für Grüne Berufe. Die heutige Gedenkstätte war ursprünglich das Direktorenhaus der Israelitischen Gartenbau- Schule Ahlem. Auch Handwerksberufe konnte man hier lernen. In der Zeit des Nationalsozialismus wurde die Gartenbau-Schule als Gefängnis der Gestapo und als Judenhaus genutzt.“
Orte wie das ZeitZentrum Zivilcourage nennt Anke Biedenkapp virtuelle Bausteine einer Jüdischen Kulturroute in Deutschland. Antisemitismus, sagt Biedenkapp, breite sich vor allem da aus, wo es keine Juden gibt. „Und da, wo man die Vorurteile abbauen kann, da verfliegt der Antisemitismus auch relativ schnell.“
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