Täuschende Genauigkeit
Umfragen haben nicht nur Freunde, und das mit gutem Grund. Das fängt damit an, dass Meinungsumfragen, zu welchem Thema auch immer, durch suggestive Fragen leicht in jede Richtung zu lenken sind, die dem Auftraggeber passt.
Bei Wahlumfragen kommen solche Manipulationen eher selten vor. Hier ist man ja an der Wahrheit interessiert. Aber trotzdem lauern auch da an allen Ecken und Enden üble Fallen vielfältiger Art. Das fängt bei der Stichprobe an: Wenn die nicht sachgemäß gezogen ist, kommen sehr leicht Fehlprognosen zustande. So muss man nicht lange raten, welche Partei in Führung liegt, wenn man die Aktionäre auf der Hauptversammlung der Deutschen Bank nach ihrer Meinung fragt.
Solche groben Fehler machen die Profi-Institute natürlich nicht. Aber die meisten Umfragen geschehen heute per Telefon, und Wähler ohne Festnetzanschluss haben dabei schlechte Karten. Oder sie verweigern die Auskunft. Eine Stichprobe der Größe 1000 bedeutet dann: Man musste vielleicht 3000 Menschen fragen. Und was die Antwortverweigerer wählen wollen, weiß man nicht.
Dann wieder lügen viele Gefragte wie gedruckt. So kommen etwa bei Wahlumfragen radikale Parteien in aller Regel sehr viel schlechter weg als später beiden Wahlen selbst. Oder die Befragten reden dem Befrager nach dem Mund. Dieses Phänomen ist etwa für eines der größten Prognosedesaster aller Zeiten verantwortlich: das bei der ersten und letzten freien DDR-Volkskammerwahl von 1990. Vor der Wahl hatte die SPD in allen Umfragen eine große Mehrheit, hinterher aber nur halb so viele Stimmen wie die CDU. Das lag daran, dass die damalige Vorliebe der Medien für die SPD für keinen DDR-Bürger zu übersehen war. Und dann sagt man eben, um des lieben Friedens Willen, das, was der Befrager vermutlich gerne hört.
Der größte Unsicherheitsfaktor bei Wahlprognosen sind aber die Unentschlossenen, die zwar wählen, aber noch nicht wissen, wen. Diese Gruppe ist aktuell besonders groß und kann leicht alle Prognosen über den Haufen werfen. Denn bei diesen Prognosen werden die Unentschlossenen nach diversen Geheimrezepten, die die Institute niemandem verraten, auf die Parteien aufgeteilt. Im Wesentlichen schreibt man dabei die Ergebnisse aus vergangenen Wahlen fort. Das kann mal funktionieren, aber ein andermal aber auch nicht.
Vermutlich ist der größte Teil aller Fehlprognosen bei Bundes- und Landtagswahlen auf dieses Phänomen zurückzuführen. Denn die Unentschlossenen entscheiden oft anders als diejenigen, die schon drei Wochen vor der Wahl genau wissen, wen sie wählen werden: viel öfter aus dem Bauch heraus, und nicht nach Tradition.
Und dann gibt es natürlich auch genug Wähler, die heute zwar wissen, wen sie wählen würden, wenn die Wahl am Sonntag wäre, die aber kurz vor der Wahl noch ihre Meinung ändern. Davon lebt ja jede Demokratie, dass die Wähler aufgrund von Argumenten oder Ereignissen einmal so und einmal anders entscheiden. Auch das hat schon für manche Überraschung gesorgt. Ein Terrorattentat am Samstag vor der Wahl, und alles sieht auf einmal anders aus. Oder, wie vor sieben Jahren, eine große Flut.
Aber selbst wenn man alles richtig macht, und kein Befragter seine Meinung ändert, kann der Zufall, der bei Stichproben immer eine Rolle spielt, alle Mühe zunichte machen. Denn selbst die beste Stichprobe schützt nicht davor, dass man zufällig vor allem an Wähler einer bestimmten Partei gerät, die in der Grundgesamtheit aller Wähler nicht so stark vertreten ist. Deshalb geben seriöse Wahlforscher immer auch eine Irrtumsmarge für ihre Prognose an.
Und als ob man mit der Produktion der Wahlprognosen nicht genug Probleme hätte, kommen dann noch weitere Probleme mit deren Konsequenzen dazu. Denn kein Mensch kann so naiv sein zu glauben, dass Wahlprognosen das Verhalten der Wähler nur abbilden, aber nicht beeinflussen. Die Wahlforscher selbst streiten zwar diese These gern und häufig ab, aber allein schon der gesunde Menschenverstand sagt, dass zum Beispiel bei knappen Entscheidungen viele Wähler, die ansonsten zu Hause geblieben wären, sich aufgerufen fühlen, dann doch lieber zu wählen.
Auch das aus den Sozialwissenschaften bekannte Phänomen, dass viele Menschen gerne auf der Seite der Sieger stehen, spielt hier eine Rolle: Parteien, die hoch in Führung liegen, ziehen gerade deshalb viele weitere, vorher unentschlossene Wähler an. Aber umgekehrt kann auch ein großer Rückstand ein "Jetzt erst recht!"-Gefühl erzeugen. Welcher dieser Einflüsse überwiegt, kann man nicht von vornherein bestimmen. Fest steht nur, dass Wahlprognosen mit großer Wahrscheinlichkeit auf das Verhalten der Wähler Einfluss nehmen.
Nicht umsonst etwa waren sie in Frankreich einmal einige Wochen vor der Wahl verboten. Genutzt hat es wenig. Die Wahlforscher publizierten ihre Prognosen dann eben von Belgien aus.
Ist die Zahnpasta einmal aus der Tube, kriegt man sie nicht mehr zurück. Wir werden also mit Wahlprognosen so lange leben müssen, wie es Wahlen gibt, und uns darauf beschränken, den Wahlforschern auf die Finger zu sehen, dass sie wirklich nur das vorhersagen, was die Stichprobe sagt - und nicht mit Absicht durch ihre Prognosen den Wählerwillen lenken.
Walter Krämer, geboren am 21.11.1948, studierte Mathematik und Wirtschaftswissenschaften in Mainz. 1985 bis 1988 Professor für Empirische Wirtschaftsforschung in Hannover, seit 1988 Professor für Wirtschafts- und Sozialstatistik an der Technischen Universität Dortmund. Träger des "Deutschen Sprachpreises" (1999). Seit 2008 Herausgeber des "German Economic Review". Autor zahlreicher Bücher, unter anderem: "Wir können alles, sogar besser. Wo Deutschland wirklich gut ist" (Piper 2008), "Lexikon der populären Irrtümer" (Eichborn 1996), "So lügt man mit Statistik" (Campus-Verlag 1991).
Solche groben Fehler machen die Profi-Institute natürlich nicht. Aber die meisten Umfragen geschehen heute per Telefon, und Wähler ohne Festnetzanschluss haben dabei schlechte Karten. Oder sie verweigern die Auskunft. Eine Stichprobe der Größe 1000 bedeutet dann: Man musste vielleicht 3000 Menschen fragen. Und was die Antwortverweigerer wählen wollen, weiß man nicht.
Dann wieder lügen viele Gefragte wie gedruckt. So kommen etwa bei Wahlumfragen radikale Parteien in aller Regel sehr viel schlechter weg als später beiden Wahlen selbst. Oder die Befragten reden dem Befrager nach dem Mund. Dieses Phänomen ist etwa für eines der größten Prognosedesaster aller Zeiten verantwortlich: das bei der ersten und letzten freien DDR-Volkskammerwahl von 1990. Vor der Wahl hatte die SPD in allen Umfragen eine große Mehrheit, hinterher aber nur halb so viele Stimmen wie die CDU. Das lag daran, dass die damalige Vorliebe der Medien für die SPD für keinen DDR-Bürger zu übersehen war. Und dann sagt man eben, um des lieben Friedens Willen, das, was der Befrager vermutlich gerne hört.
Der größte Unsicherheitsfaktor bei Wahlprognosen sind aber die Unentschlossenen, die zwar wählen, aber noch nicht wissen, wen. Diese Gruppe ist aktuell besonders groß und kann leicht alle Prognosen über den Haufen werfen. Denn bei diesen Prognosen werden die Unentschlossenen nach diversen Geheimrezepten, die die Institute niemandem verraten, auf die Parteien aufgeteilt. Im Wesentlichen schreibt man dabei die Ergebnisse aus vergangenen Wahlen fort. Das kann mal funktionieren, aber ein andermal aber auch nicht.
Vermutlich ist der größte Teil aller Fehlprognosen bei Bundes- und Landtagswahlen auf dieses Phänomen zurückzuführen. Denn die Unentschlossenen entscheiden oft anders als diejenigen, die schon drei Wochen vor der Wahl genau wissen, wen sie wählen werden: viel öfter aus dem Bauch heraus, und nicht nach Tradition.
Und dann gibt es natürlich auch genug Wähler, die heute zwar wissen, wen sie wählen würden, wenn die Wahl am Sonntag wäre, die aber kurz vor der Wahl noch ihre Meinung ändern. Davon lebt ja jede Demokratie, dass die Wähler aufgrund von Argumenten oder Ereignissen einmal so und einmal anders entscheiden. Auch das hat schon für manche Überraschung gesorgt. Ein Terrorattentat am Samstag vor der Wahl, und alles sieht auf einmal anders aus. Oder, wie vor sieben Jahren, eine große Flut.
Aber selbst wenn man alles richtig macht, und kein Befragter seine Meinung ändert, kann der Zufall, der bei Stichproben immer eine Rolle spielt, alle Mühe zunichte machen. Denn selbst die beste Stichprobe schützt nicht davor, dass man zufällig vor allem an Wähler einer bestimmten Partei gerät, die in der Grundgesamtheit aller Wähler nicht so stark vertreten ist. Deshalb geben seriöse Wahlforscher immer auch eine Irrtumsmarge für ihre Prognose an.
Und als ob man mit der Produktion der Wahlprognosen nicht genug Probleme hätte, kommen dann noch weitere Probleme mit deren Konsequenzen dazu. Denn kein Mensch kann so naiv sein zu glauben, dass Wahlprognosen das Verhalten der Wähler nur abbilden, aber nicht beeinflussen. Die Wahlforscher selbst streiten zwar diese These gern und häufig ab, aber allein schon der gesunde Menschenverstand sagt, dass zum Beispiel bei knappen Entscheidungen viele Wähler, die ansonsten zu Hause geblieben wären, sich aufgerufen fühlen, dann doch lieber zu wählen.
Auch das aus den Sozialwissenschaften bekannte Phänomen, dass viele Menschen gerne auf der Seite der Sieger stehen, spielt hier eine Rolle: Parteien, die hoch in Führung liegen, ziehen gerade deshalb viele weitere, vorher unentschlossene Wähler an. Aber umgekehrt kann auch ein großer Rückstand ein "Jetzt erst recht!"-Gefühl erzeugen. Welcher dieser Einflüsse überwiegt, kann man nicht von vornherein bestimmen. Fest steht nur, dass Wahlprognosen mit großer Wahrscheinlichkeit auf das Verhalten der Wähler Einfluss nehmen.
Nicht umsonst etwa waren sie in Frankreich einmal einige Wochen vor der Wahl verboten. Genutzt hat es wenig. Die Wahlforscher publizierten ihre Prognosen dann eben von Belgien aus.
Ist die Zahnpasta einmal aus der Tube, kriegt man sie nicht mehr zurück. Wir werden also mit Wahlprognosen so lange leben müssen, wie es Wahlen gibt, und uns darauf beschränken, den Wahlforschern auf die Finger zu sehen, dass sie wirklich nur das vorhersagen, was die Stichprobe sagt - und nicht mit Absicht durch ihre Prognosen den Wählerwillen lenken.
Walter Krämer, geboren am 21.11.1948, studierte Mathematik und Wirtschaftswissenschaften in Mainz. 1985 bis 1988 Professor für Empirische Wirtschaftsforschung in Hannover, seit 1988 Professor für Wirtschafts- und Sozialstatistik an der Technischen Universität Dortmund. Träger des "Deutschen Sprachpreises" (1999). Seit 2008 Herausgeber des "German Economic Review". Autor zahlreicher Bücher, unter anderem: "Wir können alles, sogar besser. Wo Deutschland wirklich gut ist" (Piper 2008), "Lexikon der populären Irrtümer" (Eichborn 1996), "So lügt man mit Statistik" (Campus-Verlag 1991).