Armut in Deutschland

Warum die Tafeln an ihre Grenzen stoßen

Eine Bedürftige hält eine Karte der Frankfurter Tafel für gespendete Lebensmittel.
Krieg und Inflation treiben so viele Menschen wie noch nie zu den Tafeln. Gleichzeitig spenden Handel und Industrie weniger Lebensmittel. © imago / epd / Heike Lyding
Lebensmittel spenden statt wegwerfen: Nach diesem Prinzip versorgen die Tafeln in Deutschland seit 30 Jahren Bedürftige. Deren Zahl wächst rasant. Doch die Spenden nehmen ab. Dabei ist der Grund dafür eigentlich begrüßenswert.
Vor 30 Jahren, am 21. Februar 1993, gründete Sabine Werth in Berlin die erste Tafel. Was als Unterstützung für obdachlose Menschen begann, ist mittlerweile ein riesiges Netz an Tafeln, die zwei Millionen Bedürftige unterstützen. Inzwischen sind Geringverdiener und Geflüchtete die größte Kundengruppe. Doch ihre Versorgung wird immer schwieriger für die vielen Ehrenamtlichen.

Was ist die Tafel Deutschland?

Die Tafel Deutschland ist eine gemeinnützige Hilfsorganisation. Unter dem Dachverband gibt es über das Land verteilt derzeit mehr als 960 einzelne Tafeln. Mit laut eigenen Angaben 60.000 Helferinnen und Helfern verteilen die Tafeln Lebensmittel, die noch einwandfrei genießbar sind, aber nicht mehr verkauft werden können, an Menschen in Armut. Das sind zum Beispiel Brot und Brötchen vom Vortag oder Ware mit bald fälligem Mindesthaltbarkeitsdatum, die viele Kunden nicht mehr kaufen wollen.
Wer zu einer Tafel geht, muss nichts bezahlen oder nur sehr wenig: Bei der Tafel in Bamberg beispielsweise sind es symbolische 2,50 Euro für einen Einkauf. Der Betrag solle immer so gering wie möglich sein und hänge von den örtlichen Gegebenheiten ab, heißt es in den Grundsätzen der Tafel.
Ehrenamtliche holen den größten Teil der Lebensmittelspenden mit Kleintransportern aus Supermärkten, Back-Shops und Fleischereien. Ein kleiner Teil der Spenden kommt direkt von der Industrie, zum Beispiel bei Produktionspannen: Lebensmittel in massenhaft falsch bedruckten Verpackungen gelten oft trotz einwandfreien Inhalts als unverkäuflich.

Wer ist berechtigt, zur Tafel zu gehen?

Einen Tafel-Ausweis erhalten nur bedürftige Menschen. Dazu zählen jene, die die Grundsicherung – also Bürgergeld – erhalten, oder die eine schmale Rente aufstocken müssen. Auch Asylsuchende zählen zu den Berechtigten. Nach den jüngsten Zahlen des Statistischen Bundesamts von 2021 erhielten rund 6,6 Millionen Menschen in Deutschland Leistungen der sozialen Mindestsicherung.
Längst nicht alle diese Menschen nutzen die Tafeln auch, dennoch werden es immer mehr: 2022 versorgte die Tafeln zwei Millionen Menschen in Deutschland – eine halbe Million mehr als noch im Jahr davor und so viele wie noch nie in den 30 Jahren ihres Bestehens. Der hohe Andrang führte dazu, dass rund ein Drittel der Tafeln einen Aufnahmestopp verhängen musste. Und fast zwei Drittel der Tafeln verteilen kleinere Mengen an jeden Haushalt.

Warum sind so viele Menschen wie nie zuvor bei der Tafel?

Eine Ursache ist die Massenflucht aus der Ukraine wegen des russischen Angriffskriegs: Rund 1,1 Millionen Menschen kamen im vergangenen Jahr nach Deutschland, von denen knapp eine Million geblieben sind. Nach den Pandemie-Jahren stieg zudem die Zahl Schutzsuchender aus anderen Ländern wieder an: Rund 218.000 Erstanträge auf Asyl wurden 2022 gestellt.
Es kommen aber auch mehr und mehr Einheimische zu den Tafeln, weil sie sich die hohen Lebensmittel- und Energiepreise nicht mehr leisten können.

„Wir haben vor dem Angriffskrieg auf die Ukraine in unseren 47 Ausgabestellen in Berlin etwa 40.000 Menschen mit Lebensmitteln unterstützt. Jetzt sind es 80.000. Das ist ein gewaltiger Zuwachs. Neben Geflüchteten aus der Ukraine sind das auch reichlich Menschen, die sagen: ‚Nie im Leben habe ich geglaubt, dass ich mal zur Tafel gehen müsste, aber ich habe durch Corona meine Arbeit verloren, ich bin 55 plus, ich finde nichts Anderes mehr, ich kann auch nicht einfach so die Branche wechseln, meine Ersparnisse sind aufgebraucht und jetzt brauche ich Unterstützung‘.“

Sabine Werth, Gründerin der Berliner Tafel

Es gibt auch eine längerfristige Entwicklung, die mehr Menschen zu den Tafeln treibt: wachsende Armut. Die Quote der sehr armen Menschen, die weniger als 50 Prozent des mittleren Einkommens zur Verfügung haben, ist zwischen 2010 und 2019 um mehr als 40 Prozent gestiegen. Zu diesem Ergebnis kam der Verteilungsbericht des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung.
In der Pandemie erreichte die Armutsquote in Deutschland laut dem Armutsbericht des Paritätischen Wohlfahrtsverbands ein Rekordhoch von 16,6 Prozent – das sind mehr als 13 Millionen Menschen.

Warum werden die Lebensmittel bei den Tafeln teilweise knapp?

Während die Schlangen an den Ausgabestellen immer länger werden, gibt es gleichzeitig weniger gespendete Lebensmittel zu verteilen. Laut dem Dachverband Tafel Deutschland sind die Lebensmittelspenden aus der Industrie zurückgegangen, um ein knappes Prozent des jährlichen Lebensmittel-Spendenaufkommens der Tafeln.
Darüber hinaus bekommen Tafeln auch weniger Spenden, weil Handel und Industrie gerade lernen, weniger Lebensmittel zu verschwenden: So vermarktet die Supermarktkette Kaufland Obst und Gemüse mit Schönheitsfehlern offensiv als „die etwas Anderen“. Edeka lässt überreifes Obst und Gemüse zu Brotaufstrich verarbeiten und vermarktet die Ware unter dem Label „Liebe hoch zwei“. Und beim Discounter Lidl landet schwer verkäufliche, aber unbedenkliche Ware in sogenannten „Retter-Tüten“ für Schnäppchenjäger.
Hinzu kommen Start-ups, die aus dem Retten von Lebensmitteln ein Geschäft machen. Die Konstanzer Firma Kultimativ verarbeitet unverkäufliches Brot weiter zu Knödeln, Brotchips und anderen Produkten. Und mit Hilfe der App „Too Good To Go“ können Händler schwer verkäufliche Restmengen in sogenannte „Magic Bags“ packen und kurz vor Ladenschluss billig an Schnäppchenjäger losschlagen.

Übernehmen die Tafeln eine staatliche Aufgabe?

Fest steht: Die Tafeln weiteten ihr Angebot besonders stark zu eben jener Zeit aus, als der Sozialstaat seines reduzierte. Was im Jahr 1993 mit der ersten Tafel in Berlin begann, umfasste im Jahr 2000 schon 260 Tafeln bundesweit. Den größten Wachstumsschub erlebte die Tafel-Bewegung aber in den Jahren 2004 bis 2006 – in jenen Jahren also, als die damalige Bundesregierung die Hartz-Reformen einführte und die Arbeitslosenhilfe abschaffte. Wer länger als ein Jahr arbeitslos war, fand sich von da an auf Sozialhilfeniveau wieder.
Nach Ansicht des Soziologen Stefan Selke hat sich der Staat durch die Sparpolitik und die Verknappung der Sozialleistungen in den vergangenen Jahrzehnten immer mehr aus der Daseinsfürsorge zurückgezogen. Aufgaben seien in das Ehrenamtssystem, in die Bürgergesellschaft delegiert worden.

Tafeln deuten an, dass es hinter dieser Fassade der wohlanständigen zivilgesellschaftlichen, bürgerschaftlichen Hilfe ein System gibt, in dem Armut gut aufgehoben ist. Und wenn man sich mit diesem ersten Blick zufriedengibt, hat das langfristig katastrophale Folgen, weil dann Handlungsbedarfe einfach verschwinden aus der Politik.

Stefan Selke, Soziologe

Der Vorsitzende des Dachverbands, Jochen Brühl, fordert von Politik und Gesellschaft, das Thema Armut „viel mehr in den Fokus“ zu nehmen. Es gebe Menschen, die unter den gegenwärtigen Rahmenbedingungen „nicht ausreichend versorgt“ werden. Die Tafeln seien nach wie vor ein Ausdruck gelebter Solidarität – nicht an Stelle des Staates, sondern neben ihm: „Wir geben das ab, was zu viel ist, an die, die zu wenig haben, aber wir sind nicht Versorgerin, das ist die Aufgabe des Staates.“
Besonders kritisch sehen es Vertreter von Tafeln, wenn sich Politik und Verwaltung auf die Tafeln verlassen. Das komme aber immer wieder vor, wie Sabine Werth von der Berliner Tafel beobachtet: „Eine Amtsstube hat nicht an die Tafel zu vermitteln“, sagt sie. Ämter hätten ihre Arbeit zu machen, und müssten „zeitnah“ helfen, etwa mit Einkaufsgutscheinen. Den Menschen Zettel mit den Adressen der Ausgabestellen in die Hand zu drücken, sei „sträflich“.

Sollte der Staat die Tafeln finanziell unterstützen?

Tafeln nehmen Sach-, Geld- und Zeitspenden entgegen. Sie betonen, dass sie unabhängig von politischen Parteien und Konfessionen arbeiten. Staatliche Gelder anzunehmen, kommt für Sabine Werth von der Berliner Tafel nicht infrage. Denn das würde bedeuten, „dass der Staat den Finger auf unserer Aktivität haben“ könne: „Wer mir das Geld gibt, hat auch das Bestimmungsrecht.“
Das sehen nicht alle so. Siegfried Unger von der Tafel in Erkner argumentiert, dass es in einer Großstadt wie Berlin leichter sei, Spenden zu bekommen und auf staatliche Unterstützung zu verzichten. Wenn denn aber zum Beispiel Gelder vom Landkreis fließen, kann das auch ungewünschte Konsequenzen haben: Unger erlebte, wie Mitarbeiter vom Jobcenter kontrollierten, ob tatsächlich nur berechtigte Menschen aus dem Kreis die Tafel nutzten oder auch Berliner. „Dann würden wir keinen Pfennig kriegen“, sagt Unger.

Quellen: Frank Drescher, Deutschlandradio, dpa, KNA, epd, Tafel.de, Statistisches Bundesamt, Paritätischer Wohlfahrtsverband, WSI
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