Tag der Deutschen Einheit

Von Wilfried Rott |
Der Tag der Deutschen Einheit – er ist auch ein Tag der deutschen Zwietracht – und so besehen ein sehr deutscher Tag. Denn Uneinigkeit bestimmt wahrscheinlich die deutsche Geschichte mehr als die Einigkeit. Das war schon vor 2000 Jahren so, als der Cherusker-Fürst Arminius mühselig die Germanenstämme gegen die Römer für kurze Zeit vereinigte und ist seither in allen Epochen virulent.
Heute ist man sich nach wie vor uneins, ob denn dieser 3. Oktober wirklich der rechte Tag der Deutschen Einheit sei, ob nicht der 9. November zur Erinnerung an den Mauerfall angebracht wäre. Und es wird daran gezweifelt, ob es sinnvoll ist, die zentralen Feierlichkeiten von Jahr zu Jahr als föderalistischen Wanderzirkus an anderem Ort stattfinden zu lassen.

Teil der deutschen Zwietracht, Einheit und Vielfalt war – nicht nur im Dritten Reich – auch Österreich. Und wie ist es heute? Tu felix Austria? Ist Österreich glücklicher, zeigt es, dass man einen Nationalfeiertag einträchtiger feiern kann? Versammle ich, ein seit Jahrzehnten in Deutschland lebender Österreicher, meine Erinnerungen, so weiß ich, dass es bestenfalls ein spätes Glück ist. Denn der österreichische Nationalfeiertag, der am 26. Oktober begangen wird, war bei seiner Einführung 1956 den Österreichern ziemlich fremd.

Als der Feiertag etabliert wurde, erhielt er den hochtönenden Namen "Tag der Fahne", was mancher Alkoholfreund mit einer sehr persönlichen, seinem Mund entströmenden Fahne feierte. Aber vor allem wollte es nicht ins Bewusstsein dringen, warum dieser Feiertag überhaupt begangen wurde. Landläufig hieß es, österreichisch gesprochen: Das war der Tag an dem der letzte Russ’ Österreich verlassen hat - also die Nachkriegsbesatzung Österreichs ein Ende hatte.
Ich erinnere mich, wie mich der spätere Bundeskanzler Kreisky scharf für diesen Irrtum gerügt hat und darauf hinwies, dass am 26. Oktober per Gesetz die immerwährende Neutralität Österreichs festgelegt wurde. Die immerwährende Neutralität währt noch immer, aber nimmer so eindeutig wie früher, wo heute Österreich vertraglich fest an die EU gebunden ist. Dem Nationalfeiertag hat es nicht geschadet. Er ist inzwischen eine angenehme unheroische Selbstverständlichkeit, die sich vom krampfhaften Patriotismus jener Anfänge entfernt hat, als wir Schüler zu den Reden von Ministern rot-weiß-rote Fahnen zu schwenken hatten.

Österreich hat Deutschland nicht zu belehren, aber von der längeren Erfahrung mit dem aktuellen Nationalfeiertag lässt sich doch etwas lernen. Zunächst: Ein Land muss mit sich und einem solchen Feiertag Geduld haben und sich an ihn gewöhnen. Ein solcher Jahrestag ist erst dann wirklicher Teil des politischen Jahreslaufs, wenn er zur fraglosen Selbstverständlichkeit geworden ist und ihm die Patina politischer Liturgie anhaftet, was nicht Gedankenlosigkeit bedeuten darf.

Es lässt sich ferner lernen, dass ein emotionaler Hintergrund eines solchen Festes hilfreich ist. So gesehen wäre natürlich der 9. November der viel angebrachtere Feiertag. Die Bilder der Menschen aus der DDR, die sich 1989 erwartungsvoll durch die Mauer bewegten, die in Jubel ausbrachen und von den Deutschen in der Bundesrepublik bejubelt wurden, diese Bilder rühren auch den, der das Ereignis nicht selbst miterlebt hat, immer wieder und auf Dauer.

Es will als Argument gegen den 9. November nicht überzeugen, dass sich an diesem Tag auch die Reichspogromnacht jährt. Man hätte am selben Tag des einen wie des anderen gedenken und sich damit sogar der eigenen Geschichte in seiner ganzen Breite von Leid und Freud stellen können. Aber die Entscheidung fiel für den 3. Oktober. Der bleibt zwar an Emotion weit hinter dem 9. November zurück, war jedoch auch ein schicksalhafter, das Land verändernder Tag.

Ich werde nicht vergessen, wie ein aus Leipzig kommender Fluggast in der Gepäckausgabe auf dem Frankfurter Flughafen am Abend des 2. Oktober verzweifelt rief: "Ich komme aus Leipzig. Ist das Inland oder Ausland? Wo kriege ich meinen Koffer?" Wenige Stunden später, nach dem Feuerwerk am Brandenburger Tor, war das keine Frage mehr.

Zu einem großen Jubeltag wird der Tag der Deutschen Einheit mit seinem vergleichsweise geringen emotionalen Hintergrund wohl nie werden. Aber er passt damit ganz gut zu einem Land, das mit gutem Grund das Talent zum nationalen Überschwang verloren hat. Für den unstillbaren Drang zum patriotischen Fahnenschwenken gibt es ja noch so etwas wie Fußballweltmeisterschaften, wo nach allen Erfahrungen mit deutscher Geschichte das bunte Fahnenmeer besser aufgehoben ist als an welchem Nationalfeiertag auch immer.


Prof. Dr. Wilfried Rott, Publizist, geboren 1943 in Wien. 1977 – 2004 Redakteur und Abteilungsleiter "Kultur aktuell" beim SFB/rbb. Langjähriger Kolumnist u. a. für "FAZ" und "Die Welt". Buchveröffentlichungen u. a. "Das süße Leben der Playboys: Geschichte einer Kultfigur", "Sachs – Unternehmer, Playboys, Millionäre".
Wilfried Rott
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