Tag der Verzweiflung

Von Wolfgang Sofsky |
Es war um die sechste Stunde, da sich die Finsternis über das Land legte. Die Sonne verlor ihren Schein, im Tempel zerriss der Vorhang, als der gekreuzigte Gott starb. Es war ein grausamer, schändlicher Tod. Wie einen Wegelagerer hängte man ihn an den Pfahl, renkte ihm die Glieder aus und nagelte, so die Legende, Hände und Füße ans Holz. Nackt und wehrlos bot man ihn am heiligen Baum den Elementen dar. Am Unglückspfahl, dem ältesten Richtplatz des Menschenopfers, wurde der Gott gemartert, bis er erstickte.
Die Kreuzigung Gottes enthält die Quintessenz des christlichen Glaubens. Christi Tod bedeutet das Ende des Alten Bundes, die Überwindung des Gesetzes und den Anfang der Kirche. Am Kreuz hat Jesus, wie es heißt, den Tod besiegt, die Vorfahren aus dem Limbus befreit und den Gläubigen den Himmel erschlossen. Indem er die Todesstrafe auf sich nahm, hat er alle menschliche Schuld getilgt. Es sind die Untaten der menschlichen Spezies, welche die heilige Marter verursacht haben. So unermesslich ist der Frevel der Menschheit, dass er allein durch Gottes Tod zu sühnen ist. Eine Gnadengabe ist Christi Tod, ein Selbstopfer. An Stelle jedes einzelnen hat er die Sündenlast der Menschen auf sich genommen. Daher erkennt der Gläubige an den Wunden des toten Gottes seine eigene Schuld. Zugleich aber erlangt er die beruhigende Gewissheit, von der verdienten Strafe für immer befreit zu sein.

Doch ist die Idee der Erlösung eine nachträgliche Sinngebung. Die offizielle Lesart verharmlost die Bedeutung des Karfreitags. Der österliche Wunderglaube an die Auferstehung, an den Sieg über die Vergänglichkeit, an Unschuld und Unsterblichkeit dementiert die Wahrheit von Golgatha. Er besänftigt die Gemüter, beschönigt die Qualen. Was war dies für ein barbarischer Akt! Der Unschuldige wurde für die Sünden der Schuldigen gerichtet, damit sie das ewige Leben erlangten.

Das Kreuz ist das zentrale Symbol der abendländischen Religionsgeschichte. Das Christentum ist die einzige Religion, die einen Marterpfahl zum Sinnbild ihrer Verheißung gekürt hat. Bis heute werden die Holzsplitter als Reliquien verehrt. Um aller Welt das Kreuz zu bringen, hat man Feldzüge ausgerufen und Millionen auf dem Altar der Kirche geopfert. Aber man bringt auch Sieche und Krüppel vor das Kruzifix, damit sie in der Anbetung Linderung verspüren. Den Todgeweihten führt das Kreuz sicher ins Jenseits. Mit seinen Wunden hilft der Gekreuzigte den Beladenen. Sein Leiden bringt das Heil zu den Heillosen. Sein Tod schenkt den Sterbenden das Leben. Gottes Schmerz tilgt die Qualen der Menschen, in seiner Gottverlassenheit bringt der Gekreuzigte Gott zu den Verlassenen.

Dennoch taugt der Kreuzestod nicht als Anlass für frömmelndes Mitleid, sanften Trost oder gar Heilsgewissheit. Die Passion ist das Sterben eines Gottes, der sich im Leib eines Menschen offenbart hat. Der Gekreuzigte ist die Verkörperung des unsichtbaren Gottes. Es ist Gott selbst, den die Menschen am Kreuz getötet haben. Er wurde entstellt, gegeißelt, angenagelt. Nur im nackten, vergänglichen Körper ist der christliche Gott überhaupt erkennbar. Das Blut beweist seine Existenz. Es besiegelt die Wahrheit seiner Botschaft. Ein archaisches Erbe ist in dieser Hinrichtung Gottes unverkennbar: das Blut als letzter Beweis für die Existenz Gottes, der Kreislauf von Tod und Wiedergeburt, von Ende und Auferstehung. Diese Idee verdankt das Christentum nicht der Hochreligion der Juden, sondern den vorderasiatischen Mysterienkulten. Nichts läge dem Judentum ferner als die Vorstellung, Gott müsse sterben, damit die Menschen erlöst werden.

Lässt man die Fabel von der Erlösung beiseite, dann erweist sich die niederschmetternde Botschaft des Karfreitag. Wahres Christentum ist keine Frage der Rechtgläubigkeit, der Andacht oder des frommen Rituals. Es ist eine Praktik, eine Lebensform, die allein in der Existenz Christi Wirklichkeit wurde. Jesus widerstand nicht, er verteidigte nicht sein Recht, er klagte nicht an, zürnte nicht einmal seinen Häschern und Henkern. Er machte keinen Unterschied zwischen Fremden und Einheimischen, Juden und Nichtjuden. Diese Praktik führte nicht zu Gott, sie war Gott selbst. Sein Tod ist keine Brücke, kein Übergang, sondern das Ende dieses Gottes. Mit seinem Leib bezeugt Gott, dass er Mensch geworden ist. Nirgendwo weist Gott mehr Attribute des Menschlichen auf als in seiner Sterblichkeit. Aber aus der Tatsache, dass Gott im Gekreuzigten Mensch wurde, folgt nicht der Umkehrschluss, dass jeder Mensch einen göttlichen Odem in sich habe.

Karfreitag ist der Tag der Verzweiflung, der Verlassenheit, der endgültigen Gottlosigkeit. Die Marter trennt den Gekreuzigten von der Welt und von Gott. Seine Gottverlassenheit hat einen physischen Grund. Die Pein hat ihn in sich selbst eingeschlossen, hat ihm Stimme und Sprache zerschlagen. Der gekreuzigte Gott ist an sich selbst verzweifelt, an seinem Leib. Das Zutrauen auf Rettung ist gelöscht. Umgeben von Finsternis ist er gestorben. Die Nacht von Golgatha bedeutet den Tod Gottes. Ein letztes Mal hat sich sein Leib aufgebäumt und ist in sich zusammengesackt. Schwer fiel sein Kopf nach vorn.

Wolfgang Sofsky, Jahrgang 1952, ist freier Autor und Professor für Soziologie. Er lehrte an den Universitäten Göttingen und Erfurt. 1993 wurde er mit dem Geschwister-Scholl-Preis ausgezeichnet. Er publizierte u.a.: "Die Ordnung des Terrors. Das Konzentrationslager" (1993), "Figurationen sozialer Macht. Autorität - Stellvertretung - Koalition" (mit Rainer Paris, 1994) und "Traktat über die Gewalt" (1996). 2002 erschien "Zeiten des Schreckens. Amok, Terror, Krieg", und zuletzt der Band "Operation Freiheit. Der Krieg im Irak".