Ein Coming-out, bevor es den Begriff gab
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Lange schien der österreichische Nachkriegsschriftsteller Gerhard Fritsch vergessen. "Moos auf den Steinen" und "Fasching" waren bekannte Romane. Sein Tagebuch, in dem er sich als Transvestit outet, bringt Fritsch in Erinnerung.
Joachim Scholl: Wir sind verabredet mit einem prominenten österreichischen Literaturhistoriker und Publizisten, mit dem Leiter des Literaturhauses Graz, Klaus Kastberger. Guten Tag, willkommen in der "Lesart", Herr Kastberger!
Klaus Kastberger: Hallo!
Scholl: Wir wollen uns mit Ihnen zwar gleich über den doch recht vergessenen Zeitgenossen des nun verstorbenen Friedrich Achleitner unterhalten, über Gerhard Fritsch, aber sagen Sie uns zunächst ein paar Worte über Achleitner: Für die österreichische Literatur war er ja wirklich bedeutend und ein Markenzeichen, nicht wahr?
"Der oberösterreichische Beitrag zur Wiener Avantgarde"
Kastberger: Na, der Fritz Achleitner, könnte man sagen, der war der oberösterreichische Beitrag zur Wiener Avantgarde. Dazu muss man vielleicht dieses Bundesland verstehen: Robert Musil hat einmal gesagt, eine riesig große Gelassenheit liegt über diesem Land, vor allem über den Weiten des Innviertels auch, wo Fritz Achleitner ja herkommt. Und dort ist es einfach so, da hängen einfach die Mostbirnen auf den Bäumen. Und bei manchen Sätzen vom Achleitner kommt es einem auch so vor – die hängen einfach so da wie die Mostbirnen auf den Bäumen, und diese Gelassenheit, die dahintersteckt, die bringt der Fritz Achleitner auch in das Spektakel der Wiener Gruppe ein.
Diese Gelassenheit und dieses Gleiche der Mostbirnen findet man eigentlich auch in seinem zweiten Hauptwerk, nämlich in seinem Architekturführer, wo es wie kein anderer versteht, Häuser und Räume kurz und prägnant zu beschreiben, aber auf eine Art und Weise, die unglaublich klug ist und die einem diese Räume auch nacherleben lässt. Also es ist da etwas von Gelassenheit, was mitten in der österreichischen Literatur und in der Architekturkritik aufgepflanzt ist. Und dieses Im-Zentrum-Sein, das kann man vielleicht auch nachempfinden, wenn man nach Wien fährt. Wenn Sie mal nach Wien fahren, dann gehen Sie in die Schönlaterngasse. Dort hat Fritz Achleitner zu einem Zeitpunkt, als diese Häuser in der Innenstadt alle verfallen waren und sehr billig zu haben waren, eines der berühmtesten Häuser Wiens gekauft – das Haus mit den Basilisken, das findet man dort auch. Und wie es der Zufall so haben will, ist in diesem Haus mit den Basilisken in der Schönlaterngasse jetzt auch das Antiquariat von Georg Fritsch untergebracht, dem Sohn von Gerhard Fritsch.
Scholl: In memoriam Friedrich Achleitner also. Und jetzt zu diesem anderen Wiener, Herr Kastberger, zu Gerhard Fritsch. Sie haben einen Band mit seinen Tagebüchern publiziert. Wir hier in der Redaktion waren alle überrascht, keiner von uns kannte diesen Autor, diesen Namen. Wer war Gerhard Fritsch?
Kastberger: Also Gerhard Fritsch könnte man vielleicht kennen, weil er zwei sehr relevante Romane der österreichischen Nachkriegsliteratur nach 45 geschrieben hat – "Moos auf den Steinen" und den Roman "Fasching". Auf diese beiden Bücher ist immer wieder hingewiesen worden von prominenten Exponenten der österreichischen Literatur – von Robert Menasse beispielsweise, der bei Suhrkamp die Wiederauflagen initiiert hat. Also mit diesen beiden Büchern kennt man ihn vielleicht nach wie vor in Österreich. In Österreich in der Literaturgeschichte kennt man ihn, weil er einer der bedeutendsten Kulturfunktionäre des Landes in den 50er- und 60er-Jahren war. Und die Tagebücher lassen jetzt einen ganz neuen Blick auf ihn zu eigentlich.
"Robert Menasse hat bei Suhrkamp die Wiederauflagen initiiert"
Scholl: Er ist 1924 geboren, "Moos auf den Steinen" war 1956, dann der Roman, den Sie jetzt erwähnt haben, mit dem Gerhard Fritsch bekannt wurde. Was war das denn für ein Buch, was war er für ein Schriftsteller?
Kastberger: Zwischen diesen beiden Büchern zeigt sich eigentlich eine breite Spannweite. Mit "Moos auf den Steinen" konnte Gerhard Fritsch eigentlich nahtlos in diese Rede vom habsburgischen Mythos in der österreichischen Literatur hineingestellt werden. Da geht es um ein Schloss, ein verfallenes Schloss, das irgendwie aus einer k.-und-k.-Vergangenheit stammt, und dieses Schloss, das muss erhalten werden.
Und da gibt es eine junge Frau, die das erbt, und die kann sich nicht entscheiden, wem sie ihre Liebe schenkt – ob einem alten k.-und-k.-Repräsentanten, der das eigentlich verfallen lassen will, oder einem Repräsentanten einer modernen Zeit, der dort ein Kulturzentrum, ein modernes, demokratisch gelenktes Kulturzentrum eröffnen will.
Und das passt sehr, sehr gut in diese Vorstellung, die Claudio Magris, der Triestiner Germanist von der österreichischen Literatur entwickelt hat, deren These im Prinzip darin besteht, dass die österreichische Literatur auch nach 45 gefangen ist in die Tatsache, dass wir die Monarchie verloren haben und dass die österreichische Literatur nach 45 unfähig sei, sich mit der modernen Gegenwart und mit der unmittelbaren Geschichte des Landes zu befassen. Also in diesen Zusammenhang konnte Fritsch mit diesem ersten Buch gerückt werden.
Scholl: Nennen Sie deshalb, Klaus Kastberger, Gerhard Fritsch literarisch einen Anti-Thomas-Bernhard?
Kastberger: Nein, einen Anti-Thomas-Bernhard nenne ich ihn deshalb, weil dort mit "Moos auf den Steinen" eigentlich die Geschichte und auch die Geschichte des Tagebuchs erst beginnt. Gerhard Fritsch, das zeigt sich in dem Tagebuch, hat, als er an diesem "Moos auf den Steinen" geschrieben hat, noch an einem großen Komplex geschrieben, der völlig geheim war und der im Verborgenen stattgefunden hat. Zu Beginn des Tagebuchs 1956, als gerade "Moos auf den Steinen" erschienen ist, schreibt er immer wieder darüber, dass er an sogenannten TV- oder Helmut-Storys arbeitet. TV heißt nicht Fernsehen in dem Fall, sondern TV heißt Transvestitismus, und Helmut ist die Hauptfigur, Helmut Berger heißt der, also geheime Geschichten, unter denen er auch leidet. Er leidet unter dem Zwang, das schreiben zu müssen, und die so geheim sind, dass sie nicht einmal im Nachlass von Fritsch sich erhalten haben. Das heißt, da gibt es neben dem offiziellen literarischen Schreiben einen geheimen Triebstrom, der sich in diesen Geschichten manifestiert.
Scholl: "Man darf nicht leben, wie man will", das ist der Titel dieses Bandes von Tagebüchern, ein Zitat ist das, und es verweist eben auf dieses Geheimnis, das Gerhard Fritsch verborgen hielt, verborgen halten musste. Er wurde 1969 dann tot aufgefunden, erhängt in Frauenkleidern – man weiß nicht, ob es Selbstmord oder ein, ja, schief gegangenes autoerotisches Sexspiel war. Wie hat denn diese geheime Passion jetzt Einfluss auf sein Schreiben genommen? Sie haben jetzt schon von diesen geheimen Geschichten gesprochen, aber wirft man jetzt nicht auch einen neuen Blick auf die Literatur des Gerhard Fritsch dadurch?
Kastberger: Ja, genau das zeigt sich in diesen Tagebüchern. Man könnte sagen, Gerhard Fritsch war ein Cross-Dresser, bevor es überhaupt diesen Begriff Cross-Dresser gegeben hat. Und das Tagebuch zeigt ein Coming-out, bevor es den Begriff des Coming-outs gegeben hat. Das heißt, das Tagebuch ist der Versuch, über sich selbst und über diese sexuellen Neigungen ins Sprechen zu kommen. Das ist eine unglaubliche Überwindung gegen die Tabus der 50er- und 60er-Jahre. Es zeigt eine Möglichkeit, einmal im Tagebuch über diese Dinge zu berichten, und in der weiteren Entwicklung zeigt sich, dass es Gerhard Fritsch zusehends gelingt, und das Produkt daraus ist eben der zweite Roman, der völlig anders ist als der erste, "Fasching" eben, wo diese beiden Ströme ineinanderfließen. Also die Arbeit an den geheimen Texten hört auf, und Gerhard Fritsch erschafft sich eine Möglichkeit, dieses semiotische Schreiben und das offizielle Schreiben zusammenzuflechten, zusammenzudrehen und zu einem Schreibstil zu kommen, der beides ineinander verflicht.
"Fenster, das Gerhard Fritsch auf seine eigene Person freigibt"
Scholl: Das heißt sozusagen, dieses Faschingsmotiv wird dann auch in einem neuen Licht anzuschauen sein, also das Motiv des Verkleidens, der Maskerade, das geht ja genau in diese Richtung.
Kastberger: Ganz genau, und das ist ein Fenster, das Gerhard Fritsch auf seine eigene Person freigibt, und das muss man sich so im Rahmen des 60er-Jahren vorstellen: Da war es ja absolut verboten, über diese Dinge zu sprechen, und im Literarischen findet er eine Möglichkeit, auch sich selbst und seine Person transparent zu machen. Das wurde auch früh erkannt.
Und was Thomas Bernhard betrifft: Die beiden waren sehr, sehr enge Freunde in den 50er-, 60er-Jahren. Es gibt auch einen Briefwechsel zwischen den beiden, es gibt wunderbare Fotos – eines ist auch in dem Band drin, der Tagebücher –, wo sie gemeinsam auf freiem Feld lagern. Da gibt es eine entscheidende Passage: Da fährt Gerhard Fritsch nach Bad Gleichenberg, das ist ein kleiner Kurort in der Steiermark, und da nimmt er dort im Zug die Landbevölkerung wahr. Und das erinnert sehr an Thomas Bernhard, weil die Männer sind dumpfe Backen und es ist einfach fürchterlich, aber er verdammt nicht alle, sondern er entwickelt da eine unglaubliche Empathie den Frauen gegenüber. Frauen kommen ja bei Thomas Bernhard überhaupt nicht vor im Werk, also Frauen sind ja die große Leerstelle, aber Gerhard Fritsch empfindet plötzlich eine Anteilnahme an den Frauen. Und er sagt auch: Ich bin der, der in Frauenkleidern schreibt. Also hier differenziert er sich wirklich von Thomas Bernhard bei einem prinzipiell gleichen Ansatz der Beobachtung.
Scholl: Herr Kastberger, Sie haben jetzt mit diesem Buch, der Tagebücher, zumindest einen weißen Fleck auf unserer "Lesart"-Landkarte getilgt, besten Dank dafür! Auf jeden Fall sollten wir uns zu Ihrem Band lieber den ersten Roman oder den Faschingsroman gleich dazulegen?
Kastberger: Also am besten, Sie lesen mal das Tagebuch und dann lesen Sie "Fasching" und dann lesen Sie "Moos auf den Steinen". Und dann gibt’s noch etwas: Dann lesen Sie ein nachgelassenes Fragment von Gerhard Fritsch, das eigentlich für mich zum Besten gehört, was er gemacht hat: "Katzenmusik" heißt das.
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