Tagebuch

Über die Fluchtindustrie in Nordafrika

Schlauchboot treibt mit Flüchtlingen aus Afrika auf dem Mittelmeer.
Ein Schlauchboot treibt mit Flüchtlingen aus Afrika auf dem Mittelmeer. © dpa / Italian Navy Press Office
Von Doris Anselm |
Die Dokumentarfilmerin Miriam Faßbender hat afrikanische Flüchtlinge auf dem Weg nach Europa begleitet. Ihr Film zum Thema lief auf der Berlinale, jetzt hat sie ein Buch darüber geschrieben.
Warten auf ein Visum. Wochenlang, monatelang. Botschaftsbeamte, die freundlich oder weniger freundlich vorschlagen, doch eine Visums-"Agentur" zu nutzen, mit deren Hilfe sich der Vorgang beschleunigen ließe – eine teure Dienstleistung. Endlich auf der Reise: Polizeischikane, stundenlanges Warten auf der einen Wache, tägliche Meldepflicht bei einer anderen. Willkür. Schlechter Schlaf in einem Zelt aus Plastikplanen.
Dies alles sind nicht die Erfahrungen der Flüchtlinge, die Miriam Faßbender portraitiert – die sind noch viel, viel schlimmer. Es sind die Erlebnisse der Autorin selbst. Ihr Buch ist eine Art Arbeitsjournal. Nachträglich verfasst, zeichnet es die Wege der Kamerafrau und Regisseurin nach, die für ihren Kinofilm "Fremd" versucht hat, auf der Spur einzelner Flüchtlinge aus den ärmsten Ländern Afrikas zu bleiben.
Miriam Faßbender hat gezögert zu schreiben, als der Westend-Verlag anfragte.
"Eine weitere Geschichte einer weißen Europäerin, mit den fragwürdigen Privilegien ausgestattet, im Zusammenleben mit den Geflüchteten, aber immer mit der Gewissheit, bestimmte Situationen in absehbarer Zeit mit dem Flugzeug, dank des Passes oder einer Geldzahlung wieder verlassen zu können?
Warum diese Geschichte von mir, wo es mittlerweile vor allem die Geflüchteten selbst sind, die ihre Geschichte am eindrucksvollsten erzählen und damit endlich ein Gleichgewicht der Geschichten zu schaffen vermögen?!"
Ihre Skepsis ist nicht vorgetäuscht. In ihrem Film hatte Miriam Faßbender die Flüchtlinge in der Tat selbst erzählen lassen: Sie verteilte kleine, preiswerte Videokameras unter ihnen. Und erwarb sich offenbar so viel Vertrauen und Respekt, dass die Kameras nicht verkauft wurden, die Bänder nicht verloren gingen und Faßbender Stunden über Stunden an Material zurückbekam. Ihr Film "Fremd" war auf der Berlinale vornominiert für den Deutschen Filmpreis.
Sie kann sich nicht für eine Perspektive entscheiden
Jetzt erzählt sie im Buch also doch von sich selbst – und auch wieder nicht. Denn über weite Strecken des Textes führt das Unbehagen der Autorin dazu, dass sie sich nicht entscheiden kann zwischen der Perspektive der Flüchtlinge und ihrer eigenen. Und natürlich stellen deren Geschichten allen Mut und alle Reisestrapazen der Autorin weit in den Schatten.
Cover - "2850 Kilometer" von Miriam Faßbender
Cover - "2850 Kilometer" von Miriam Faßbender© Westend-Verlag, Frankfurt
In den so genannten "Foyers du Nord", den Heimen, in denen Flüchtlinge auf dem Weg quer durch Afrika unterkommen, spricht Miriam Faßbender unter anderem mit Cissé aus Guinea, 19 Jahre alt:
"Während wir auf einer Matte im Innenhof seines Heims sitzen, erzählt Cissé, wie er im Hafen von Marseille mit dem […] Pass eines Freundes, der für ein Jahr Austauschstudent […] in Frankreich gewesen sei, versucht habe, die Grenze am Hafen zu passieren. […]
Die französische Grenzschützerin habe lange zwischen dem Pass und seinem Gesicht hin- und her gestarrt. Dann seien […] einige Beamte gekommen und hätten ihn, ehe er sich versah, in Abschiebehaft gebracht.
Er sei auf eine Fähre zurückgebracht worden. In Algier habe man […] ihm seinen Pass abgenommen, ihn zusammengeschlagen, wochenlang in Haft gesteckt und schließlich an die algerisch-malische Grenze abgeschoben.
Nach einer viertägigen Fahrt ohne Pausen, für die man sie 'wie Kühe' in den Lieferraum eines LKW gepfercht habe, seien sie mitten in der Wüste ausgesetzt und ihrem Schicksal überlassen worden. Ohne einen einzigen Wasserkanister."
So erschütternd Cissés Geschichte auch ist: Mit dem Untertitel des Buchs – "Mohamed, Jerry und ich unterwegs in Afrika" suggeriert Faßbender das Versprechen, sich auf zwei Protagonisten zu konzentrieren. Dieses Versprechen bricht sie, und das ist zum Schaden der Erzählung.
Denn die Autorin wollte gerade einzelnen Migranten eine Biografie geben und sich damit von der ratlosen Flüchtlings-Massenberichterstattung abheben. Doch immer wieder wirft sie neue Namen und Geschichten ein, Figuren tauchen auf und verschwinden.
Das mag im Grunde authentisch die Situation der unzähligen Flüchtlinge widerspiegeln, die sich in Warteschleifen vor den Toren Europas bewegen, die umkehren oder sterben. Aber am Ende bleiben die einzelnen Figuren dadurch doch fremd und am Schluss steht wieder nur der Stoßseufzer: "Wie furchtbar das alles ist."
Es gibt Fluchthilfe für jeden Geldbeutel
Faszinieren kann das Buch dagegen überall dort, wo Miriam Faßbender ihr Wissen über die Strukturen der Flucht-Industrie sortiert und ausbreitet. Da gibt es Fluchthilfe für jeden Geldbeutel: Luxus-Schlepper, die direkt mit korrupten Beamten in den Botschaften zusammenarbeiten. Oder jene heruntergekommenen Rückkehrer, die an Busbahnhöfen für ein paar Scheine Zettelchen mit Fluchtrouten und Tipps verkaufen.
Die Filmemacherin hat unter Flüchtlingen gelebt, etwa in einem Ghetto in Algerien. Sie beschreibt die Arbeitsteilung dort, die erstaunlich solidarisch zu funktionieren scheint:
"Einer von ihnen wird morgens eingeteilt, sich um das Essen des Tages zu kümmern, anschließend ziehen [die Anderen] los, um Arbeit zu suchen.
Wer sich früh morgens an einer der Ausfahrtsstraßen […] befindet, hat die Möglichkeit, bei einem vorbeifahrenden Arbeitgeber einen Tagesjob zu ergattern. Vereinzelt werden auf [diesen] Arbeitsstrichen auch qualifizierte Arbeiter wie Schneider […] oder Mechaniker gesucht. Sobald jedoch zu viele Subsaharier an einer Stelle warten, laufen sie Gefahr, entdeckt und unvermittelt abgeschoben zu werden. –
Sich im Ghetto um das Essen zu kümmern bedeutet oft, betteln gehen zu müssen. Wenn selbst das […] nichts einbringt, wagen sie sich zum Ende der Marktzeiten in die Medina und erbetteln die Reste vom Obst oder sammeln liegengebliebenes, meist schon fauliges Gemüse ein."
Dieses Leid hat ursächlich auch mit Europas Außen- und Weltpolitik zu tun, stellt sie fest. Dem ist schwer zu widersprechen. Aber die Ausdrücke "neokolonial" und "postkolonial" fallen bei ihr so häufig, dass Zweifel aufkommen, wie selbstkritisch die Autorin wirklich mit ihrer eigenen Rolle umgeht.
Ständig beansprucht sie Deutungshoheit, ist "erschüttert", statt ihre Erlebnisse – eben – für sich selbst sprechen zu lassen. Etwas mehr Beobachtung und etwas weniger Position hätten diesem Buch gutgetan.

Miriam Faßbender: 2850 Kilometer -
Mohamed, Jerry und Ich unterwegs in Afrika.
Westend-Verlag Frankfurt, Mai 2014
320 Seiten, 16,99 Euro, auch als ebook