Léon Werth: "Als die Zeit stillstand"
Aus dem Französischen von Barbara Heber-Schärer und Tobias Scheffel. Mit einem Vorwort von Georges-Arthur Goldschmidt,
S.Fischer Verlag, Frankfurt/M. 2017. 944 Seiten, 36 Euro
Die deutsche Besatzung aus der Sicht eines Franzosen
"Als die Zeit stillstand" ist das Tagebuch einer Flucht vor den in Frankreich vorrückenden Nazis: Der Journalist Léon Werth hat 1940 die Veränderungen vor und während der deutschen Besatzung dokumentiert. Fischer hat diesen Klassiker nun noch einmal aufgelegt.
Einen Herbst und einen Winter lang konnten die Franzosen abwarten. Zwar hatten sie nach dem Überfall der Wehrmacht auf Polen dem Deutschen Reich den Krieg erklärt, doch zu Kampfhandlungen kam es nicht. Dann allerdings ging alles ganz schnell. Innerhalb weniger Wochen im Frühling 1940 war die Grande Nation besiegt. Die deutsche Armee rückte auf Paris vor und unzählige Bürger flohen aus der Hauptstadt. Unter ihnen: der Schriftsteller und Journalist Léon Werth.
"33 Tage" heißt Werths Bericht über diese Flucht. So viel Zeit brauchte er, um in ein kleines Städtchen im Jura zu gelangen, das er in Friedenszeiten gewöhnlich innerhalb von acht Stunden erreicht hatte. Der Krieg dehnt die Zeit für die einen, für andere lässt er sie schrumpfen. Für Léon Werth gab es noch einen dritten Zustand. Sein Tagebuch aus den Jahren 1940 – 1944 zeugt davon, es liegt nun unter dem Titel "Als die Zeit stillstand" erstmals in deutscher Übersetzung vor. Es ist – nicht nur seines Umfangs von über 900 Seiten wegen – ein großes Zeitdokument und eine große Erzählung, darin den Tagebüchern Victor Klemperers nicht unähnlich.
Parallelen zu Klemperers Tagebüchern
Léon Werth, dem sein Freund Antoine de Saint-Exupéry den "Kleinen Prinzen" widmete, war über Sechzig, als er sich vor den Nazis in sein Ferienhaus im Gebirge zurückzog. Seine jüdische Herkunft, Sympathien für die Linke, geistige Unabhängigkeit, seine republikanische, doch antiautoritäre Grundhaltung, machten ihn gleicherweise zum natürlichen Gegner der Nazis. Er war eine arrivierte Persönlichkeit im Kulturbetrieb und saß nun plötzlich auf dem Land, im nicht besetzten Teil Frankreichs, der vom greisen Marschall Petain jedoch im Sinne der Deutschen regiert wurde.
Werth stand nicht in der Schusslinie, war aber gefährdet. Vor allem war er abgeschnitten von seinen Kontakten, vom Dialog. Sein Tagebuch ist insofern auch Zeugnis seiner Einsamkeit. In ihr führt er Gespräche mit Pascal, Saint-Simon, Voltaire und Flaubert. Es sind Selbstbefragungen die helfen, einen Standpunkt unter den Verhältnissen des Krieges einzunehmen und doch an der Zivilisation festzuhalten.
"Warum bin ich nicht in London? Weil ich keine Zivilcourage habe oder weil ich nicht soviel davon habe, dass sie mich dazu treibt, ohne dass man es von mir verlangt?" Und auch kleine Dinge helfen beim Überleben: "Ich bin wieder Fahrrad gefahren. Ich hatte es vergessen. Ich fahre Fahrrad, wie man im Wörterbuch etwas nachschlägt, ich lese kein offenes Buch. Plötzlich, wie durch einen Klick, wird eine alte Erinnerung wieder lebendig. Ich gleite dahin."
Darüber hinaus notiert Werth, was er hört: im Radio, im Bahnhofsbuffet, aber auch beim Bäcker, von den Bauern, den Handwerkern und Kaufleuten. Er ist stolz, selbst wie ein Bauer reden zu können, doch er denkt und schreibt wie ein Intellektueller. Anekdotisches verbindet er mit Reflexionen zum gesellschaftlichen und politischen Zusammenleben, über das er mit den Freunden, den Historikern Lucien Febvre und Marc Bloch bei ihren Besuchen diskutiert. Er gibt den Inhalt von Flugblättern wieder, von Untergrundzeitungen, Graffitis und offiziellen Verlautbarungen. Beschreibt mit dem Geist des Kunstkritikers Umgebung und Spaziergänge durch die Natur. Und mit großer Ehrlichkeit auch seine der Einsamkeit geschuldeten Depressionen.
"Ein seltsamer Pudding" von Zeugenaussagen
Werth selbst nennt diese Tagebuchaufzeichnungen einen "seltsamen Pudding". Erstmals wurden sie 1946 unter dem Titel "Déposition" (Zeugenaussage) veröffentlicht und dann bald vergessen, denn was in ihnen zu lesen ist, passt nicht zum Narrativ einer Nation von Widerstandskämpfern. Von Seite zu Seite verdichtet sich das Bild der Veränderung, die Frankreich nach der Niederlage erfahren hat – hin zu Selbstaufgabe, Anpassung, Kollaboration. Léon Werth hat das als engagierter Beobachter klarsichtig festgehalten. Und mit diesem Tagebuch ein historisch und menschlich bedeutsames Zeugnis abgegeben, indem er als Einzelner - bedroht und mit eingeschränkten Möglichkeiten - seine Zeit liest und sich mit ihr auseinander setzt.