Olaf Georg Klein: Tagebuchschreiben
Wagenbach Verlag, Berlin 2018
192 Seiten, 20 Euro
Ein Reich der Freiheit
"Niemand zensiert, niemand kontrolliert", sagt Schriftstelller Olaf Georg Klein über das Tagebuch. Seit er 16 Jahre alt ist, schreibt er besondere Erlebnisse auf – und ist damit nicht allein. Auch Kafka, Thomas Mann und Susan Sontag führten Tagebuch.
Joachim Scholl: Ich bekam eines zu meinem neunten Geburtstag, und ich weiß noch heute, was ich als Erstes reinschrieb in mein allererstes Tagebuch. "Ich wünsche mir eine Platte von Deep Purple." Diese Leidenschaft, für Deep Purple schon, aber fürs Tagebuch hielt nicht lange, ganz im Gegensatz zu Olaf Georg Klein. Dieser Autor, dieser Schriftsteller nämlich, schreibt seit Jahrzehnten Tagebuch, und wie intensiv ihn dieses Tagebuchschreiben auch grundsätzlich beschäftigt, zeigt er jetzt in einem genauso betitelten Buch. Olaf Georg Klein ist bei uns in der "Lesart" im Deutschlandfunk Kultur. Guten Tag!
Olaf Georg Klein: Schönen guten Tag!
Scholl: 40 Jahre Tagebuch heißt es bei Ihnen, Herr Klein. Stimmt das?
Klein: Es sind sogar ein paar mehr, ganz genau. Man wird ja immer älter, und irgendwann vergisst man die Zahlen nachzureichen – also ab meinem 16. Lebensjahr.
Verschiedene Typen von Tagebuchschreibern
Scholl: Und heißt das wirklich täglich, jeden Tag?
Klein: Nein. Das ist ganz utopisch. Zwei- bis dreimal die Woche. Es gab auch immer mal Phasen, wo ich mich gefragt habe: Warum machst du das eigentlich? Sollst du daran weiter festhalten? Und ich hab auch mal versucht, zwei, drei Monate ohne Tagebuchschreiben auszukommen. Aber dann bin ich wieder zurückgekommen.
Scholl: Da sind wir schon beim Typus des Diaristen. Was für einer sind Sie denn, Herr Klein? Einer, der in Stichworten schreibt oder in ganzen Sätzen? Einer, der alles notiert, was an einem Tag so vorgefallen ist, oder einer, der nur ganz besondere Ereignisse festhält? Das wären so ein paar Koordinaten.
Klein: Ja, das sind ja gleich mehrere Fragen auf einmal. Das eine ist, ich habe ein Notizbuch bei mir, sodass ich auch bestimmte Sachen, die mir tagsüber durch den Kopf gehen oder die ich als wichtig empfinde, oder Beobachtungen, die ich dann kurz stichpunktartig notiere. Aber ich schreibe in der Regel am Morgen. Der Morgen hat für sich, dass das, was am Tag davor war, schon ein bisschen zurückgetreten ist, nicht mehr so eng, das.
Aber, um da auch gleich ein Missverständnis auszuräumen, es geht ja nicht darum, dass man die äußere Welt verdoppelt und jetzt noch mal das hinschreibt, was man den ganzen Tag über erlebt hat, sondern es geht ja darum, das Besondere hervorzuheben. Das heißt, Tagebuchschreiben ist ja immer so etwas wie verdichtete Zeit. Sie können ja unmöglich – sonst müssten Sie ja, wie "Ulysses", einen ganzen Roman schreiben von einem einzigen Tag, was Sie gedacht, gefühlt, erlebt, gesehen und so weiter haben. Das ist komplett unmöglich. Das heißt, Tagebuchschreiben heißt immer, die Essenz des Tages, das Wesentliche des Tages, das, was mich wirklich berührt hat, zu notieren, und nicht einfach beliebig, was so passiert.
"Es gibt einem extrem viel Selbstwertgefühl"
Scholl: Ich habe es schon oft bereut, dass ich kein Tagebuchschreiber geworden bin, habe es irgendwann als Kind schon, glaube ich, aufgegeben und dann auch nie wieder angefangen. Immer mal zwischendurch gedacht, dann als Student, wenn man dann die berühmten Tagebücher liest von großen, bedeutenden Menschen – ja, wäre doch vielleicht auch schön, dein Leben ein bisschen festzuhalten. Tagebuchschreiben ist, glaube ich, eine Haltung zum Leben, oder?
Klein: Ja, gut. Es braucht ein gewisses Selbstwertgefühl, um überhaupt erst mal anzufangen. Und dann gibt es einem aber auch extrem viel Selbstwertgefühl. Und ich kann eigentlich nur Leute ermuntern, die auch schon mal geschrieben haben, sich einfach wieder ein Tagebuch zu nehmen und einfach mal loszuschreiben. Denn Tagebuchschreiben ist ja nicht so was wie eine lästige Pflicht, sondern es ist ja etwas, was man so denken könnte, wenn man von der Schule gezwungen war, da dies und das zu schreiben. Dann wurde es benotet, dann wurde es zensiert und so weiter.
"Niemand zensiert, niemand kontrolliert"
Aber Tagebuchschreiben ist ja ein absolutes Reich der Freiheit. Sie können schreiben, was Sie wollen. Niemand zensiert, niemand kontrolliert. Sie können auch Tage aussetzen. Sie können auch einfach mal nur vor dem Tagebuch sitzen, ruhig werden, und dann schreiben Sie rein: "Heute nichts geschrieben." Berühmter Eintrag von Kafka. So bedeutet das eine bestimmte Haltung dem Leben gegenüber, zu sagen: Das Leben soll nicht einfach nur vorbeirauschen, ich will nicht einfach nur funktionieren und überleben, sondern ich möchte es gleichzeitig reflektieren und mich damit auch selbst ein Stück mit hervorbringen.
Scholl: Weil Sie den Namen Franz Kafka schon erwähnen. In Ihrem Buch natürlich kommen sie alle vor, die großen Diaristen der Weltliteratur, kann man sagen. Und das ist ja ein interessantes Moment, diese literarischen Tagebücher, oder Tagebücher von großen, bedeutenden Schriftstellern, zum Beispiel, wo man ja gleich auch den Unterschied zu dem Tagebuch des, sage ich mal, Normal-Menschen ermessen kann. Weil diese Tagebücher sind ja oft Tagebücher, wo der Verfasser weiß, das wird später mal die Nachwelt lesen. Ändert das nicht völlig den Charakter eines Tagebuchs?
Klein: Genau, richtig. Das verändert völlig den Charakter. Ich muss Ihnen in mehreren Punkten widersprechen. Einerseits habe ich sowohl sehr bedeutende Autoren, weil das einfach literaturgeschichtlich interessant ist. Dann, muss man sagen, gibt es auch eine ganze Reihe von Autoren, die nie daran gedacht haben, dass das Tagebuch jemals veröffentlicht wird, und die sind eigentlich viel spannender. Elias Canetti sagt nicht umsonst, in dem Moment, wo ich dran denke, dass mein Tagebuch irgendwann veröffentlicht werden könnte, fange ich schon an zu fälschen. Und da ist es ganz dicht zum Blog quasi, also etwas, was ich von mir – dass ich gut dastehe, dass ich mich präsentiere, dass ich vor anderen gut aussehe. Wenn wir jetzt mal von Thomas Mann die Tagebücher sehen, ist ja sehr interessant, dass er seine frühen Tagebücher alle vernichtet hat. Nämlich die, die wirklich noch authentisch waren, als er noch nicht so berühmt war. Und später dann, die sind dann natürlich alle publiziert worden, haben auch ihren ganz eigenen Reiz, haben aber überhaupt nichts mehr mit einem authentischen Tagebuch zu tun.
Scholl: Aber er hat verfügt, dass sie 20 Jahre erst nach seinem Tod geöffnet werden sollten.
Klein: Trotz alledem, ja, klar.
Scholl: Insofern hat man doch das Gefühl, dass er doch an manchen Punkten ehrlich war, weil er wusste, wenn ich tot bin, lesen sie es, dann kann es mich nicht mehr kratzen. Aber es ist trotzdem eine Art von Inszenierung. Es gibt ja auch Tagebücher, die einen unglaublichen historischen Wert für uns haben. Wenn wir zum Beispiel ans 17. Jahrhundert denken, an Samuel Pepys, der in London da im Flottenamt arbeitete und seine erotischen Abenteuer aufschrieb in einer Geheimschrift, die dann Hunderte Jahre später veröffentlicht wurde. Wir wüssten so viel weniger über das 17. Jahrhundert oder über die Zeit ohne ihn.
Klein: Ja. Es ist ganz interessant, wenn Sie ihn jetzt gerade erwähnen. Es gibt einen wunderbaren Eintrag von ihm, wo er auch ein bisschen im Rückstand ist mit seinem Tagebuchschreiben, und wo er reinschreibt ins Tagebuch: "Ich verpflichte mich, erst wieder zu küssen und Wein zu trinken, wenn ich meine Tagebuchschulden beglichen habe. Und da ich morgen zu einem Empfang gehe, wird sich das nicht verhindern lassen."
"Seinem eigenen Denken auf die Spur kommen"
Also das heißt, auch da zwei Seelen in seiner Brust. Einerseits das Wissen darum, das, was Sie vorhin auch angesprochen hatten, das Wissen darum, dass ich eigentlich gern Tagebuch schreiben würde, und gleichzeitig, dass es natürlich mich auch eine gewisse Konzentration und Achtsamkeit kostet, das wirklich zu tun. Und in meinem Buch – ich würde vielleicht noch mal ganz kurz den Bogen spannen – geht es mir wirklich darum, dass man sich nicht einschüchtern lässt von berühmten Tagebüchern, sondern man kann seine Gefühle ganz direkt ausdrücken, ohne soziale Katastrophen auszulösen. Man kann wirklich seinem eigenen Denken auf die Spur kommen. Oder wie Susan Sontag zum Beispiel, die ein authentisches Tagebuch geschrieben hat, das dann gegen ihren Willen von ihrem Sohn veröffentlicht wurde – ein ganz eigenes Drama, muss man auch noch mal extra beleuchten. Aber sie sagt einmal: "Woher soll ich wissen, was ich denke, bevor ich nicht lese, was ich schreibe?" Das Schreiben ist ein anderer, sortierender, konzentrierender Prozess, der etwas mit mir und meinem eigenen Denken und meinem Sein auch im Alltag macht.
Scholl: Wobei wir bei einer Gretchenfrage wären, Herr Klein, die immer auftaucht, wenn es ums Tagebuchschreiben geht. Darf man das Tagebuch von anderen Menschen heimlich lesen?
Klein: Auf keinen Fall. Das sollten Sie weder sich noch anderen antun. Es gibt dann riesige Missverständnisse darüber. Wenn man nämlich das Tagebuch von jemand anderem liest und dann noch heimlich liest, dann vermutet man ja, dass derjenige da das Wahrste des Wahren und seine eigentlichen Gedanken reingeschrieben hat. Aber trotzdem ist Tagebuchschreiben eine Momentaufnahme. Ich kann in einem Moment schreiben, "das geht mir völlig auf die Nerven, am besten würde ich mich trennen, was soll das überhaupt alles noch", und einen Tag später denke ich, "ach, die Süße, was – wie ging es mir gestern?" Wenn jetzt nur der eine Teil gelesen wird, dann kriegt der andere natürlich eine völlig falsche Information, und gleichzeitig ist es so, dass er ja nicht wirklich nachfragen kann, denn er hat einen Tabubruch begangen. Und das zuzugeben, dass man heimlich im Tagebuch gelesen hat, das ist eine Katastrophe. Von daher, Finger weg. Aber man hat natürlich als Tagebuchschreiber auch eine Verantwortung, seine Tagebücher nicht offen irgendwo herumliegen zu lassen und so weiter, und so fort.
Ist die Zukunft des Tagebuchs digital?
Scholl: Nächstes tolles Stichwort, Herr Klein. Aufbewahrung. Wir haben jetzt in einer Zeit des Digitalen – langsam verlassen wir die Welt des Papiers. Es wird alles sozusagen nur noch digital gespeichert. Mit den Fotos hat es schon angefangen. Das Fotoalbum ist eigentlich so gut wie ausgestorben. Was heißt das für das Genre des Tagebuchs? Werden jetzt mittlerweile Tagebücher eher im Netz geschrieben? Wenn man so an die Blogs denkt, an diese ganzen Foren, an Facebook-Accounts, sind das neue, moderne Formen des Diariums?
Klein: Ich würde dem widersprechen. Das ist einfach immer eine gewisse Art von Marketing im weitesten Sinne. Man schreibt über ein Thema, man veröffentlicht es, da ist ja nichts dagegen zu sagen. Man kann sich auch selbst zum Thema machen und sich selbst darstellen. Aber dennoch ist es so, dass ich natürlich immer im Hinterkopf habe, ich schreibe für ein Publikum, für den unbekannten Leser. Und die wirklich wirkliche Energie, die Sie aus einem Tagebuch ziehen können, ist, wenn Sie es wirklich um seiner selbst willen machen und nicht mit dem Gedanken, es zu veröffentlichen. Erst dann kommen Sie wirklich bei Ihrem eigenen Selbst an, erst dann sind Sie wirklich radikal ehrlich. Erst dann können Sie wirklich, wenn Sie dann eine Woche, einen Monat, ein Jahr später Ihr eigenes Tagebuch lesen, daraus wirklich Nutzen ziehen.
Radikale Ehrlichkeit statt Reklame
Alles andere ist, wie gesagt, Reklame, Marketing und Selbstdarstellung. Dagegen kann man nichts sagen. Das ist auch etwas, aber das ist eben nicht das, was ich unter wirklich einem Tagebuchschreiben verstehe, was dann zu einem anderen Selbstbewusstsein, einer anderen Selbsterkenntnis und letzten Endes auch Selbstwirksamkeit führt, weil man nämlich sich sagt, was mache ich da eigentlich den ganzen Tag, was tue ich da, wie sinnvoll ist das, und so weiter.
Scholl: Ist ein Tagebuch auch eine gute Form, die Zeit ein wenig nicht nur festzuhalten, sondern auch ein bisschen anzuhalten. Sie haben in einem früheren Buch über Zeitwahrnehmung und Umgang mit der Zeit geschrieben. Hat das Tagebuchschreiben auch diese Funktion?
Eine Vervielfachung der Zeit
Klein: Ja, auf jeden Fall. Das hatten wir vorhin schon. Einerseits ist es so, dass das Tagebuch verdichtete Zeit ist, es ist strukturierte Zeit. Gleichzeitig kann man aber etwas machen, dass man wie in Zeitlupe etwas im Tagebuch beschreibt, also eine bestimmte Situation, die vielleicht nur zehn Sekunden oder eine halbe Minute gedauert hat, können Sie ja über eine ganze Seite ausdehnen. Das heißt, Sie können sowohl wie in Zeitlupe, Sie können aber auch wie in einem Zeitraffer – wenn Sie am Ende des Jahres Ihr Tagebuch noch mal durchlesen, vielleicht an ein, zwei Tagen, dann geht das ganze Jahr an Ihnen noch mal an ein, zwei Tagen vorbei. Von daher haben Sie auch eine Vervielfachung der Zeit, und Sie können sich natürlich auch extrem viel besser erinnern an Details, die andere längst vergessen haben.
Details einer Freundschaft
Ein guter Freund von mir hatte jetzt einen runden Geburtstag, und dann bin ich einfach meine Tagebücher durchgegangen und habe geguckt nach seinem Namen und habe dann sehr viele wunderbare Details natürlich aus unserer Freundschaft ihm in der Rede sagen können. Das war einfach wunderbar.
Selbstbefragung statt Beurteilung Anderer
Scholl: Jetzt frage ich mich gerade, wenn wir so reden, Herr Klein, ob dann in 20 oder 30 Jahren die Nachwelt in Ihren Tagebüchern liest: "26. Oktober 2018. Heute Interview im Deutschlandfunk Kultur. Moderator typisch halbgebildet, Standardfragen, Mittelmaß." So was konnten Zeitgenossen bei Thomas Mann dann später lesen über sich.
Klein: Aha, okay. Nein. Aber da wäre so die Frage. Das wäre eigentlich eher wieder so eine Selbstbefragung: Habe ich eigentlich genug über das Buch auch gesprochen, das der Leser ja vielleicht dann doch mal in die Hand, oder der Hörer besser gesagt mal in die Hand nimmt und da vielleicht mal drin blättert, sich vielleicht inspiriert fühlt davon doch, und sei es erst mal mit einer Kladde, und sei es erst mal mit ein paar Notizbüchern, die nach und nach in ein Tagebuch übergehen können? So etwas. Ich würde es eher eine Selbstbefragung, aber nicht so sehr eine Be- oder Verurteilung anderer Personen.
Scholl: Glück gehabt. Auf jeden Fall glaube ich, dass Sie vielen Menschen durch Ihr Buch Mut machen, vielleicht doch wieder zum Tagebuchschreiben zurückzukehren oder überhaupt erst mal anzufangen.
Tagebuchschreiben hilft, Innezuhalten
Klein: Es ist ja auch eine Art Widerständigkeit gegen diesen Zeitgeist, dass alles immer sofort einen äußeren Nutzen haben muss, und dass ich immer mich im außen verliere. Sondern es geht darum, nicht nur um das Anhalten, sondern um das Innehalten. Das ist ein ganz feiner Unterschied. Dann geht es darum, nach innen zu gehen.
Scholl: Olaf Georg Klein, vielen Dank, dass Sie bei uns waren!
Klein: Danke schön!
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