Amir Baitar, Henning Sußebach: "Unter einem Dach – ein Syrer und ein Deutscher erzählen"
Rowohlt Verlag, Reinbek 2016, 192 Seiten, 19,95 Euro
Mülltrennung, Gott und andere Missverständnisse
Ein junger syrischer Flüchtling zieht bei einer deutschen Familie ein. Was das bedeutet, haben Amir Baitar und "Zeit"-Redakteur Henning Sußebach in "Unter einem Dach" aufgeschrieben. Nermin Ismail wiederum erzählt in "Etappen einer Flucht" von den Erlebnissen der Flüchtlinge auf ihrem Weg nach Europa.
Was für ein Experiment! Da nimmt eine gut bürgerliche deutsche Familie einen jungen syrischen Flüchtling in ihr Haus auf. Sie leben ein paar Monate "Unter einem Dach", so der Titel des Buches von Amir Baitar und Henning Sußebach. Letzterer, ein mehrfach ausgezeichneter Redakteur der Wochenzeitung "Die Zeit", trifft auf den 20 Jahre jüngeren ehemaligen Informatik-Studenten aus einer Kleinstadt am Euphrat. Ihre Begegnung wird beide verändern. Oder um es präziser auszudrücken: Es wird ihre Sichtweisen auf sich selbst und den anderen verändern.
Wenn "ein Syrer und ein Deutscher erzählen", so der Untertitel, dann erzählten sie erst mal von ganz banalen Dingen. Wie richte ich ein Zimmer für einen Flüchtling ein?, fragen sich Henning und seine Familie. Wie gläubig ist er? Müssen oder sollen wir Bilder abhängen? Amir, der nach seiner Flucht über die Türkei lange Monate in einem Heim in Sachsen ausharren musste, fragt sich: Wo werde ich beten können? Kann ich aus dem Glas trinken, aus dem schon mal Alkohol getrunken worden ist? Wie schreibt Henning - sie nennen sich beim Vornamen - gleich zu Beginn: "Die Geschichte ist reich an Missverständnissen, komischen Überraschungen und irren Wendungen."
Im Wechselspiel erzählen Henning und Amir von ihren Erfahrungen, die nicht unterschiedlicher sein könnten. Besonders eindrücklich sind Hennings Selbstreflektionen, – wunderbar leicht und ironisch formuliert. "Die Zeit der spätsommerlichen Bahnhofs-Ergriffenheit (und auch der Ergriffenheit über die eigene Ergriffenheit) ging über in frühwinterliche Furcht vor zu vielen Flüchtlingen."
Wenn "ein Syrer und ein Deutscher erzählen", so der Untertitel, dann erzählten sie erst mal von ganz banalen Dingen. Wie richte ich ein Zimmer für einen Flüchtling ein?, fragen sich Henning und seine Familie. Wie gläubig ist er? Müssen oder sollen wir Bilder abhängen? Amir, der nach seiner Flucht über die Türkei lange Monate in einem Heim in Sachsen ausharren musste, fragt sich: Wo werde ich beten können? Kann ich aus dem Glas trinken, aus dem schon mal Alkohol getrunken worden ist? Wie schreibt Henning - sie nennen sich beim Vornamen - gleich zu Beginn: "Die Geschichte ist reich an Missverständnissen, komischen Überraschungen und irren Wendungen."
Im Wechselspiel erzählen Henning und Amir von ihren Erfahrungen, die nicht unterschiedlicher sein könnten. Besonders eindrücklich sind Hennings Selbstreflektionen, – wunderbar leicht und ironisch formuliert. "Die Zeit der spätsommerlichen Bahnhofs-Ergriffenheit (und auch der Ergriffenheit über die eigene Ergriffenheit) ging über in frühwinterliche Furcht vor zu vielen Flüchtlingen."
In dieser Zeit nehmen die Sußebachs "ihren" Flüchtling auf. Und stellen fest, dass sie wenig wissen über die Kultur des anderen. Umgekehrt ist es nicht anders: Amir, dessen Passagen von Larissa Bender aus dem Arabischen übersetzt worden sind, ist überfordert von der deutschen Mülltrennung und seinem eigenen Zimmer. "Ich hatte so viel Platz, mit dem ich nichts anfangen konnte."
Was das Buch so außergewöhnlich macht, ist die Herangehensweise: Hier wird Integration aus der Froschperspektive beschrieben. Persönlich, deutlich und – ehrlich. "Wir kennen jetzt unsere Vorbehalte und Vorurteile und die Grenzen unserer Toleranz", schreibt Henning am Ende: "Es tut mir leid Amir, aber es gibt keinen Gott!" Und Amir antwortet: "Einen solchen Satz hätte ich früher nicht ertragen. Aber es ist Hennings Entscheidung".
Was das Buch so außergewöhnlich macht, ist die Herangehensweise: Hier wird Integration aus der Froschperspektive beschrieben. Persönlich, deutlich und – ehrlich. "Wir kennen jetzt unsere Vorbehalte und Vorurteile und die Grenzen unserer Toleranz", schreibt Henning am Ende: "Es tut mir leid Amir, aber es gibt keinen Gott!" Und Amir antwortet: "Einen solchen Satz hätte ich früher nicht ertragen. Aber es ist Hennings Entscheidung".
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Was für ein Experiment! Eine junge österreichische Journalistin, gerade ausgezeichnet mit dem Nachwuchspreis der ORF-Akademie, reist monatelang durch die Türkei und Griechenland. Die Muslima Nermin Ismail arbeitet als ehrenamtliche Dolmetscherin und beschreibt in ihrem Tagebuch die "Etappen einer Flucht". Wobei Tagebuch eigentlich der falsche Begriff ist: Sie erzählt wie in einer Reportage von den Erlebnissen der Flüchtlinge auf ihrem Weg nach Europa und schiebt ihre persönlichen Eindrücke in Form von langen Textpassagen ein.
Auf mehreren Seiten gleich zu Beginn widmet Ismail ihr Buch den "Generationen von Menschen, die ihr Land verlassen müssen und die auf der Flucht vor dem Tod sterben mussten". Sie fügt die Namen von Dutzenden Menschen ein, die dann im Verlaufe des Buches mit ihren Geschichten auftauchen. Eine auf den ersten Blick packende Idee, den Leser neugierig zu machen auf das, was kommt. Allerdings zeigt sich dann im Verlauf die große Schwäche des Buches: Man verliert sich beim Lesen in zu vielen Geschichten.
Dieser Eindruck vermittelt sich schon in der Einleitung. Nermin Ismails beschreibt über viele Seiten ihre Beweggründe, als "Journalistin, freiwillige Dolmetscherin und als Mensch die Geschichten all derjenigen zu erzählen, die gehört werden sollen". Bewusst wechselt sie ihre Rollen zum Teil innerhalb eines Kapitels, springt von der Journalistin in die Rolle der Dolmetscherin, transkribiert lange Passagen ihrer Gespräche mit den Flüchtenden und leistet sich dann ausführliche Selbstreflexionen. "Auch wenn ich meine Rollen wechsle, ich bleibe der Mensch, der beobachtet und empfindet."
Ihre Reportagen gehen über das, was schon tausendfach beschrieben worden ist, nicht hinaus, - auch nicht stilistisch. Vieles ist gut gemeint, aber handwerklich schlecht umgesetzt. Es hätte dem Buch gut getan, sich auf ein paar Geschichten zu konzentrieren. Interessant und eindrücklich hingegen sind ihre Erfahrungen, die sie als österreichische Journalistin mit Migrationshintergrund macht. Die Skepsis ihrer eigenen Umwelt, der Behörden, der Flüchtlinge, die sie nicht einordnen können. Davon hätte man gerne mehr gelesen.
Nermin Ismail: "Etappen einer Flucht – Tagebuch einer Dolmetscherin"
Promedia, Wien 2016, 240 Seiten, 19 Euro