Tagebücher

Große Autoren ganz privat

Von Ursula März |
Was haben Thomas Mann, Christa Wolf und Franz Kafka gemeinsam? Sie alle sind Schriftsteller - und haben außer Bestsellern auch Tagebuch geschrieben. Der Germanist Michael Maar stellt Notizen aus vier Jahrhunderten vor.
"21.3.1921. Zu viel zum Tee gegessen; überladener Magen. Briefe geschrieben bis halb 8, dann noch etwas hinausgegangen zu Tiefatmungen."
Dieser Satz fordert zwei Fragen heraus. Erstens: Warum wurde er geschrieben? Zweitens: Warum interessiert er uns? Was veranlasste den bedeutenden deutschen Schriftsteller Thomas Mann, derlei doch recht unbedeutende Mitteilungen zur körperlichen Befindlichkeit über Jahrzehnte hinweg seinen Journalheften anzuvertrauen; und weshalb gelten seine Tagebücher als relevanter Teil seines Werks? Diese Fragen stimulieren und begleiten das Buch des Berliner Philologen und Kritikers Michael Maar, das den Tagebuchexerzitien von Schriftstellern gewidmet ist und einen Titel trägt, der sich ebenfalls Thomas Mann verdankt: "Heute bedeckt und kühl".
Der Reiz von Maars Streifzug durch vier Jahrhunderte des Tagebuchschreibens – er beginnt bei Samuel Pepys im 17. Jahrhundert und führt bis zum Blog des jüngst verstorbenen Schriftstellers Wolfgang Herrndorf – liegt in der erzählerischen, gleichsam flanierenden Darstellungsweise. Statt einer systematischen Abhandlung wählt Michael Maar die gelenkige Form des Essays, die ihm assoziative und überraschende Querverbindungen gestattet. Er tritt in ein Gespräch mit den Tagebüchern so unterschiedlicher Autoren wie Heimito von Doderer, Christa Wolf, Anais Nin, Friedrich Hebbel, Leo Tolstoi, Andy Warhol, John Cheever, Franz Kafka, Rainald Goetz und vielen anderen – ohne die historische Abfolge der Tagebücher und ihren historischen Hintergrund aus den Augen zu verlieren.
Und er bringt die Tagebücher selbst miteinander ins Gespräch. Eine besonders originelle Parallele entdeckt er zwischen der amerikanischen Kultintellektuellen Susan Sontag und der DDR-Autorin Brigitte Reimann. Beide besaßen einen unerbittlichen Lebenshunger und einen nicht weniger unerbittlichen Hang zur mitunter quälenden Selbsterforschung, ja Selbstabrechnung.
Das Tagebuch ersetzt den Beichtstuhl
In seinem protestantischen Charakter sieht Maar eine wesentliche Funktion des Tagebuchschreibens. Es ersetzt den Beichtstuhl. Im Tagebuch hält das Ich mit sich Gerichtstag. Eine andere Funktion ist seelische Entlastung, woraus sich ergibt, dass in vielen Tagebüchern eher von Nöten und Sorgen denn von Glück und Zufriedenheit die Rede ist. Bei Schriftstellern tritt ein drittes Motiv hinzu: Die Stil- und Schreibübung, die der Arbeit am eigentlichen literarischen Werk rituell vorausgeht.
Dezent lässt der Tagebuchleser Michael Maar durchschimmern, wer seine persönlichen Favoriten sind: Virginia Woolf dürfte dazu zählen, die ehrlich genug ist, sich zu ihrer dauerhaften Rivalität mit Katherine Mansfield zu bekennen; oder Peter Sloterdijk, dessen im vergangenen Jahr erschienenes Journal "Zeilen und Tage" einen brillanten Gegenwartsbeobachter, aber auch einen veritablen Selbstironiker erkennen lässt. Für ihn gilt wie für alle andere Diaristen: Man muss ihre Tagebücher nicht kennen, um ihre literarischen oder philosophischen Hauptwerke zu verstehen. Aber man versteht den Menschen hinter den Büchern ein wenig besser.
Michael Maar: Heute bedeckt und kühl. Große Tagebücher von Samuel Pepys bis Virginia Woolf
Beck Verlag 2013
257 Seiten, 19,95 Euro
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