Tagebücher und Online-Journale

Zwischen Reflexion und Selbstoptimierung

06:15 Minuten
Mehrere Tagebücher auf einem Tisch
"Ein absolutes Reich der Freiheit", nennt der Autor Olaf Georg Klein das Tagebuchschreiben. © Unsplash / Charl Folscher
Von Mandy Schielke |
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Gedanken und Ereignisse des Tages zu notieren, ist für viele Menschen eine beliebte Routine – ob berühmt oder normalsterblich. Als "Journaling" und Selbsthilfewerkzeug ist das Tagebuchschreiben nun wieder zum Begriff des Zeitgeists geworden.
"Ich verpflichte mich, erst wieder zu küssen und Wein zu trinken, wenn ich meine Tagebuchschulden beglichen habe." Das schreibt der Engländer Samuel Pepys im 17. Jahrhundert, ein treuer Tagebuchschreiber.
Tagebuchschreiben, das heißt, Gefühle auszudrücken ohne soziale Konsequenzen zu befürchten. Die Kulturwissenschaftlerin Tine Nowak vom Museum für Kommunikation in Frankfurt hat sich vor Jahren für eine Ausstellung mit Tagebüchern befasst.

Formenvielfalt von intim bis öffentlich

"Wenn man sich ein bisschen historische Tagebücher anguckt, sieht man: Es gibt das Einfüllen in Kalender. Manchmal erinnert das eher an ein Rechenbuch. Es gibt die Anlehnung an Logbücher. Es gibt einfach eine große Zahl, wie Tagebuch schreiben in der Vergangenheit geführt wurde", erklärt sie.
"Nicht jede Form ist ein intimes, geheimes Tagebuch. Es gibt auch öffentliche oder halb öffentliche Tagebücher. Und das ist eigentlich ein schöner Brückenschlag zur Jetztzeit, wo durch die digitalen Formate noch mal eine höhere Formatvielfalt möglich ist."
Apps, wie Dayone oder Five Minute Journal sollen dabei helfen, die Gedanken zum Tag zu strukturieren. Vorgegebene Kategorien, die nur noch auszufüllen sind. Blogs und Videos machen verheißungsvolle Versprechen: Tagebuchschreiben wird als unterschätzte Tätigkeit beworben, die in nur wenigen Minuten Produktivität und Wohlbefinden steigern könne.
Tagebuchschreiben ist als Wundertüte und als Journaling wieder Begriff des Zeitgeists geworden. Das Phänomen stammt eigentlich aus den 1970er-Jahren und beschreibt eine Technik, die Schreiben als Therapie und Selbsthilfewerkzeug begreift.
"Persönlich muss ich sagen, finde ich sogar andere Formate noch interessanter: Foto Apps und Video Apps, TikTok, Instagram", sagt Tine Nowak. "Indem durch eine Praxis des Fotografierens, des Videografierens ein Alltag beschrieben wird, der aber auch noch in Kombination mit der Community das gegenseitige Widerspiegeln des Alltags ermöglicht."

"Die Essenz des Tages notieren"

"Tagebuch schreiben heißt immer die Essenz des Tages, das Wesentliche des Tages, das, was mich wirklich berührt hat, zu notieren – und nicht einfach beliebig, was so passiert", sagt Olaf Georg Klein. Er schreibt selbst seit Jahrzehnten Tagebuch und hat vor drei Jahren ein Buch übers Tagebuchschreiben veröffentlicht.
"Die wirkliche Energie, die Sie aus einem Tagebuch ziehen können, ist, wenn Sie es wirklich um seiner selbst willen machen und nicht mit dem Gedanken, es zu veröffentlichen. Erst dann kommen sie wirklich bei ihrem eigenen Selbst an. Erst dann sind Sie wirklich radikal ehrlich. Alles andere ist wie Reklame, Marketing und Selbstdarstellung", erklärt er.
Eine Grenze, die fließend ist. Es gibt sie immer noch und auch immer wieder neu - die analoge Faszination für Gedanken auf Papier.
Max ist acht Jahre alt und in der dritten Klasse. "Wir schreiben dann immer was über unser Wochenende. Und dann sollen wir immer schreiben. Wann, wo, wie und warum? Immer am Montag in der fünften Stunde." Seit über einem Jahr schreiben sie in der Schule Tagebuch.
Seine erste Form des kreativen Schreibens über sich selbst überhaupt. "14.6.2021. Gut, am Freitagnachmittag sind wir nach Buckow gefahren. Am Samstag sind ich und mein Bruder zu unserer Nachbarin gegangen. Dort habe ich ein Eichhörnchenjunges gefunden. Wir haben es gewärmt." Aber nicht immer gibt es Einträge. "Wie zum Beispiel am 27. 9. ist mir nicht so viel eingefallen. Und wo mir auch nichts eingefallen ist, war am 30.11."

Nicht als lästige Pflichtübung begreifen

Was sagt der Tagebuchexperte dazu? "Tagebuch schreiben ist ja nicht so was wie eine lästige Pflicht. Tagebuch schreiben ist ein absolutes Reich der Freiheit. Sie können schreiben, was Sie wollen. Niemand zensiert, niemand kontrolliert. Sie können auch Tage aussetzen. Sie können auch einfach mal nur vor dem Tagebuch sitzen, ruhig werden und dann schreiben Sie rein: Heute nichts geschrieben", empfiehlt Olaf Georg Klein.
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