Geschichten in Geschichte umwandeln
Wie lässt sich Krieg erzählen? Es gehe um "Einzelgeschichten, die dann zu der Geschichte verdichtet werden", sagte der Literaturwissenschaftler Ulrich C. Baer anlässlich einer Tagung im Berliner Haus der Kulturen der Welt.
Joachim Scholl: "Niemand zeugt für den Zeugen" - das ist der letzte Vers eines Gedichts von Paul Celan, zugleich erster Satz und Titel eines Buches, das der New Yorker Literaturwissenschaftler Ulrich C. Baer herausgegeben hat. In diesen Tagen ist er in Berlin als Teilnehmer der Tagung "Krieg erzählen". Willkommen im Deutschlandradio Kultur, Herr Baer!
Ulrich C. Baer: Ja, vielen Dank, dass Sie mich hier haben!
Scholl: Sie haben diese Celan-Zeile zitiert, Herr Baer, für ein Buch über die Erinnerung an die Shoa, ein Geschehen, über das zu erzählen wohl noch komplexer und schwieriger ist als über den Krieg. Wofür steht dieses "Niemand zeugt für den Zeugen" bei Celan, was hat er damit gemeint?
Baer: Also dieses Zitat von Paul Celan ist aus einem Gedicht von 1967, "Aschenglorie", aus dem Band "Atemwende", und "Aschenglorie" schon ist eigentlich ein zweischneidiger Titel, es geht um Asche, das Gedenken an die umgebrachten, ermordeten Juden Europas, und es geht um Glorie, um den Versuch, durch ein Gedicht, durch Kunst so was vielleicht zu bewältigen, umzusetzen. Und "niemand zeugt für den Zeugen", ist die letzte Zeile dieses Gedichts, in dem Celan, glaube ich, zwei Sachen sagen will: Einmal wird Zeugenschaft immer durch die Singularität, die Einzigartigkeit, die Einzelperson getragen, nur diese Person kann Zeugnis ablegen von den Geschehen, den Ereignissen, die sie erlebt hat, niemand anders kann dafür einstehen, niemand kann dafür zeugen.
Auf der anderen Seite steht dieses Zeugnis dann für was Kollektives ein, für was, was alle angeht, und es richtet sich an alle. Und ich glaube, dieses "niemand zeugt für den Zeugen" als Schlusszeile ist auch ein Appell oder ein Anruf an die Leser ganz konkret, an uns als Leser des Gedichts und als die, die danach kommen, die jetzt weiter zeugen müssen, dieses Zeugnis zu übernehmen.
Scholl: Das wäre ja dann eine Zeugenschaft sozusagen in zweiter Potenz, so das erste direkte Zeugnis des Zeitgenossen reichen wir dann an die Nachkommen weiter, bezeugen das Geschehen also fort. Sie sprechen in diesem Zusammenhang, Herr Baer, von Verantwortung, die wir dann auch übernehmen müssen. Was ist das für eine Verantwortung?
Baer: Also die Verantwortung ist vielleicht die Verantwortung für die Geschichten erst mal als Einzelgeschichten, die dann zu der Geschichte verdichtet werden, also der Geschichte, sagen wir mal, zusammengeflochten werden, die wir als Geschichte allgemein kennen.
Ganz persönlich habe ich lange Zeit Zeugenaussagen von Holocaustüberlebenden transkribiert, Videoaussagen und diese Geschichten dann nie an jemanden weitergeben können. Und da ist mir sehr bewusst geworden: Man hat dann diese Geschichten, man hört von jemandem, das ist mir widerfahren, das ist mir passiert, jetzt hast du diese Geschichte – was macht man damit? Wie setzt man die um?
Und Celan sagt natürlich: Niemand zeugt davon. Das ist ein Appell, aber das ist vielleicht auch ein Hilferuf, der sagt: Wie kann man das dann, diese Geschichten weiterbringen? Und diese Geschichten in Geschichte umzuwandeln, ist vielleicht einer der Ansprüche von ... wo Kunst oder Literatur, sagen wir, in Celans Fall jetzt Lyrik, etwas ausrichten kann.
Erfahrungsberichte werden "irgendwann praktisch mit der Zeit überholt"
Scholl: Die Shoa oder den Krieg erzählen, heißt ja immer, das Furchtbarste, das Grauenvolle zu erzählen und dass sich davon oft gar nicht erzählen lässt, das wissen wir von so vielen Überlebenden, die geschwiegen haben, weil sie eben nicht davon erzählen konnten. Welche Funktion bekommt hier die Fiktion, also die Erzählung von Krieg und Gewalt und Schrecken in der Literatur, auf der Bühne, im Film?
Baer: Also hole ich mal ein bisschen weiter aus, eine ganz andere Zeugenaussage ist Herman Melville "Moby Dick", die Jagd auf den weißen Wal. Warum? Weil das Buch anfängt mit der Zeugenaussage von einem Überlebenden eines Schiffsunglücks, katastrophal, niemand überlebt, nur ein Mensch, der diese Geschichte verbreiten muss.
Daraus entsteht ein unglaublich langer, schwieriger Roman, der eigentlich pure Fiktion ist, weil der Zeuge immer appellieren muss an das Hören und das Interesse der anderen. Da wird Fiktion erst mal eingesetzt, einfach um Interesse zu erhalten, um eine Spannung herzustellen, damit eine Geschichte zu erzählen.
Und zweitens ist Fiktion nicht dann einfach das Erfundene, sondern vielleicht das Exzessive, das Übertriebene, das an der Sprache, was wir nicht ganz bewältigen können, und damit wird Fiktion zu dem Zeichen von dem, was man nicht bearbeiten kann, statt um die direkte Umsetzung, hier ist das Ungesagte, wird jetzt sagbar gemacht.
Scholl: Aber was heißt das dann eigentlich für die Erinnerung selbst? Also übertragen wir den Fall jetzt mal auf den Holocaust - wird der irgendwann nur noch in den Bildern existieren, wie sie Steven Spielberg in "Schindlers Liste" choreografiert hat, oder ist das nicht schon längst passiert?
Baer: Ja, das kann passieren, und ich würde auch sagen, das ist nicht unbedingt das Allerschlimmste. Die Erfahrungsberichte, die Überlebensberichte werden natürlich irgendwann praktisch mit der Zeit überholt.
Wir erleben jetzt: Aus Kriegen kommen Leute und erzählen Geschichten. Um noch mal zurückzugehen zur Fiktion: Diese Geschichten müssen erzählbar sein, da muss man Rekurs nehmen, muss man sich zurückbesinnen auf Erzählstrategien, die schon existiert haben. Es kann einem niemand zuhören, der noch nie so eine Art Geschichte gehört hat.
Deswegen muss man eigentlich das Unerzählbare in eine erzählbare Form betten. Ob dann nur noch Fiktionen am Ende sind – da würde ich das eher umdrehen und sagen: Ist Geschichte nicht auch eine große Erzählung? Geschichte sind auch nicht vielleicht nur reine Fakten, die wir aneinander reihen.
Scholl: "Krieg erzählen", zu Gast in Deutschlandradio Kultur ist der Literaturwissenschaftler Ulrich C. Baer. Es gibt ein berühmtes Zitat von Uwe Johnson, als er mal über den Zweiten Weltkrieg gesagt hat: "Wer wissen will, wie der Russlandfeldzug etwa war, braucht eigentlich nur die Bücher von Heinrich Böll zu lesen, die frühen Bücher", das sei mehr wert als alle Berichte und Protokolle. Inwieweit hat Johnson recht?
Baer: Ja, also Herr Johnson in Ehren, das ist so ein Zitat von Künstlern, die gerne oft sagen, Literatur übersteigt die Wirklichkeit, und wer wirklich etwas wissen will, der kann nur durch Literatur das beziehen. Glaube ich nicht. Auf der anderen Seite sagt er vielleicht: Wenn man den Russlandfeldzug, sagen wir mal, als Ereignis verstehen würde, müsste man sich Millionen von Berichten anhören, wirklich Millionen. Und das ist natürlich nicht möglich.
Deswegen ist eine Stimme von Heinrich Böll stark genug, vielleicht so was zusammenzufassen. Es geht, glaube ich, eher um Kompro ... etwas zusammenzufassen, wirklich zu verdichten zu einer Stimme, an die man sich erinnern kann. Man kann sich nicht an Millionen Stimmen und Ereignisse und Erleben erinnern.
Scholl: Wie geht es Ihnen als Amerikaner, Herr Baer? Wir kommen gleich noch auf den 11. September, da haben Sie ein tolles Buch rausgebracht mit Stimmen von vielen Schriftstellern, aber mir ist in dem Zusammenhang eingefallen, gerade mit dem Johnson-Zitat, der Film von Coppola über "Apocalypse now", also der, würde ich jetzt ungeschützt sagen - die ewig gültige Interpretation der Mentalität dieses Krieges vielleicht, aus meiner Sicht.
Es hat sich aber wirklich so im kollektiven Gedächtnis, glaube ich, ... diese Bilder, die er geschaffen hat und auch diese Fiktion, die ja dann auf einem Joseph-Conrad-Text basiert, irgendwie umzuverwandeln, dass das eine Art hat von "So war der Vietnamkrieg".
Baer: Na ja, und um an Johnson anzuschließen: Francis Ford Coppola hat ja auch gesagt, in den Philippinen zu filmen war schlimmer, als im Vietnamkrieg zu kämpfen, also im Endeffekt auch eine sehr arrogante Äußerung, muss man sagen.
Aber diese Umsetzung von einem literarischen Mythos, sagen wir mal, Conrads Reflektion des Kolonialismus in "Herz der Finsternis" in den Vietnamkrieg umzusetzen und da eine Geschichte zu erzählen, die gar nicht existiert hat, und dann Leuten damit zu vermitteln, worum es in diesem Krieg ging - ob das nun die Meistererzählung ist, an die sich alle halten müssen, weiß man nicht, aber es hat jedenfalls Zugang, sagen wir mal, für Millionen geschafft, die sonst gar keinen Zugang hätten und die auch mit Vätern aufgewachsen sind, die darüber zuerst gar nicht geredet haben oder anders geredet haben.
"Für mich war das Buch persönlich wichtig"
Scholl: Noch weiter zurück liegt das Ereignis, das jetzt in diesem Monat ein großes Diskussionsthema ist, der Erste Weltkrieg, und bis heute gilt Erich Maria Remarques Roman "Im Westen nichts Neues" als das Buch, in dem steht, wie es war, das ganze Grauen des Gemetzels. Und nehmen wir eine andere literarische Berühmtheit aus der Zeit, Ernst Jüngers "In Stahlgewittern", da bekommen wir eine ganz andere Sicht auf diesen Krieg als Abenteuer, wo harte Kämpfer sich bewähren. Beide Autoren waren Zeugen mit völlig verschiedener Mentalität und dementsprechend verschiedenen künstlerischen Absichten. Muss man das also auch immer mit bedenken, wenn wir solche Erzählungen vom Krieg lesen?
Baer: Ja, was daran wichtig ist, glaube ich, was Sie gerade ansprechen: Es gibt mehrere Perspektiven, es gibt (…)persektive, es gibt Überlebende, es gibt Täter, es gibt, sagen wir mal, Zeugen, also die dabeistehen, dann gibt es Jünger, begeistert, er war nicht der einzige, der begeistert ist, also um das mal ... Rainer Maria Rilke war kriegsbegeistert 1914. Es gab Leute, von denen hätte man es eigentlich nicht erwartet.
Remarques Buch galt als unpolitisches Buch und wurde zu einem Friedensbuch 1929, als es erschien. Aber diese mehreren Perspektiven im Auge zu behalten ist auch Teil der Literatur, und ob dann Jünger sein eigenes Buch wirklich richtig verstanden hat, weiß man auch nicht, ob Remarque sein eigenes Buch richtig einschätzt, weiß man auch nicht, dass man eher sagt, Literatur öffnet diese Möglichkeit, dass mehrere Perspektiven auf ein Ereignis existieren.
Scholl: Aber aus diesen Büchern - die lösen sich von ihren Verfassern ab und werden dann eben doch zu Zeugenschaften eigentlich von Ereignissen, und jetzt in diesem Zusammenhang, Herr Baer: Sie haben nach 9/11, also den Attentaten vom 11. September, einen Band herausgegeben, in dem 110 Autoren über die Anschläge schreiben, und ich habe nicht alle lesen können, aber etliche und dachte: Eigentlich wird dieses Buch in 100 Jahren vielleicht ein unglaubliches Zeugnis sein, ein unglaubliches historisches Zeugnis, wirklich als Zeugenschaft so, wo ich gesagt habe: Wird denn dieses Buch vielleicht in ferner Zukunft mehr erzählen als jede Dokumentation?
Baer: Also für mich war das Buch persönlich wichtig, weil ich da am 11. September da war in Manhattan, ich habe niemanden Persönlichen verloren, habe es aber gesehen, war zu nah dran, und das World Trade Center hatte 110 Stockwerke, deswegen heißt das Buch "110 Stories". Und ich wollte 110 verschiedene Perspektiven auf dieses Ereignis zeigen, weil ich eigentlich dachte: Es gibt erst mal acht Millionen in der Stadt New York.
Und das Zweite, was sich zeigen wollte: In der Welt wurde das Ereignis behandelt als Medienereignis. Das war es aber nicht für ein paar Millionen Leute in New York, auch für mich war es kein Medienerlebnis, weil nämlich bei uns Fernsehen und Radio ausgefallen ist sofort, ich habe das alles nur live gesehen.
Und ich wollte, dass Literatur diesen Moment der Distanz erst mal ausarbeitet, weil Literatur eigentlich Zeit schafft, dass man sagt, man kann jetzt hier reflektieren, man kann was umsetzen mental und sprachlich, und dann aus 110 Geschichten eine Geschichte zu machen. Ich bin auf das Buch auch enorm stolz, weil ich es nicht selber geschrieben habe. Da sind 110 Leute, die das geschrieben haben, und dann dachte ich mir, 110 Mal das Gleiche zu besprechen – wenn das noch interessant ist, dann könnten Sie recht haben, dann ist das ein wichtigeres Zeugnis als eine Dokumentation, die eigentlich einen Kamerawinkel, eine Perspektive und eine Darstellung hat.
Und der zweite Grund, warum ich das Buch gemacht habe, weil ich im Oktober 2001 die Zeitung gelesen habe und mit Leuten, mit meiner Familie, mit Leuten in Deutschland gesprochen habe und in Amerika, meiner gesamten Familie dort, und ich aus den journalistischen Erklärungen nichts verstanden habe. Die haben da sofort ausgeweitet auf Weltpolitik, wo ich dachte: Was mir hier passiert ist, ist eigentlich sehr persönlich und geht uns sehr nahe, und das muss man auch noch reflektieren.
Scholl: Ulrich C. Baer, er nimmt teil an der Tagung in Berlin "Krieg erzählen" im Haus der Kulturen der Welt, bis morgen geht die Veranstaltung noch. Herr Baer, herzlichen Dank für Ihren Besuch bei uns und für dieses Gespräch und gute Heimfahrt nach New York City!
Baer: Ja, vielen Dank für das Gespräch, danke ich Ihnen!
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