Tahmima Anam: "Unser Plan für Welt"
© Hoffmann und Campe
Eine App soll uns retten
05:09 Minuten
Tahmima Anam
Übersetzt von Kirsten Riesselmann
Unser Plan für WeltHoffmann und Campe, Hamburg 2022352 Seiten
22,00 Euro
Ob Taufe oder Beerdigung des geliebten Haustiers: Ein Algorithmus liefert das passende Ritual für jede Vorliebe oder Überzeugung. Die Plattform WAI verspricht so ein sinnvolleres Leben. Aber welchen Preis zahlen ihre Gründer?
Seit sie im Geometrie-Leistungskurs auf der Highschool hinter ihm saß, ist Asha in den zwei Jahre älteren Cyrus verliebt – aber erst Jahre später wird ihre Sehnsucht erfüllt. Mittlerweile erforscht sie am berühmten MIT, wie künstliche Intelligenz Empathie erlernen könnte, und trifft Cyrus auf der Beerdigung ihrer Englischlehrerin wieder.
Sie verlieben sich ineinander und träumen gemeinsam von einer besseren Welt. Asha vertraut auf technologischen Fortschritt, Cyrus auf Spiritualität und Achtsamkeit.
Ein Algorithmus generiert Rituale
Mit Cyrus‘ bestem Freund Jules kommen sie auf die Idee, diese Weltrettungshoffnungen zu verbinden: Sie schaffen die Plattform WAI – ausgesprochen „Why“ wie das englische Wort für „Warum“ und eine Abkürzung für „We Are Infinite“.
Auf WAI generiert ein Algorithmus für Menschen Rituale, die auf ihren Überzeugungen und Leidenschaften basieren. Man muss nur ein Ding nennen, das man liebt, eine Erfahrung, die einen geprägt hat, und den Anlass – und schon wird mithilfe des Lieblingsbuchs und der Erinnerung an einen Köpper vom Beckenrand ein individualisiertes Taufritual entworfen. Oder eine Zeremonie für die Bestattung der Katze – das ist das meistnachgefragte Ritual.
Start-up statt Religion
WAI bietet das, was Menschen schon immer gesucht haben: ein sinnhaftes Leben im Einklang mit ihrem persönlichen Glaubenssystem und wahlweise in Gemeinschaft mit Gleichgesinnten – fernab institutionalisierter Religionen.
In dieser Idee und ihren Folgen steckt das große gegenwartsanalytische Potenzial von Tahmima Anams Roman „Unser Plan für die Welt“. Bissig beschreibt Anam die Realitäten eines Start-ups auf der Suche nach Investoren, die Desillusionierungen und Veränderungen, die damit innerhalb des Gründerteams einhergehen. So sehr sie die Welt verändern wollen, dem Kapitalismus können sie nicht entkommen.
Abrechnung mit weißer Investorenwelt
Die in Bangladesch geborene Tahmima Anam kennt diese Welt. Sie ist im Vorstand eines Start-ups, das ihr Ehemann gegründet hat. „The Start-up Wife“ heißt „Unser Plan für die Welt“ im Original, und er erzählt auch davon, wie sich eine Beziehung verändert, wenn man gemeinsam ein Unternehmen gründet.
Asha passiert, was vielen Frauen of Color passiert: Die weißen Männerbünde der Investorenwelt nehmen sie nicht ernst, glauben lieber, Cyrus sei der Mastermind hinter allem, und sie wird in den Hintergrund gedrängt. Asha versucht sich zu überzeugen, sie sei mit dieser Rolle zufrieden, aber sie ist auch eine moderne Frau, die ihren eigenen Weg finden will.
Asha ist die Erzählerin dieser Gründungs- und Liebesgeschichte, und das erweist sich über weite Strecken als Stärke des Romans. In den pointierten Beschreibungen von Asha und ihrer Familie – ihre Eltern sind aus Bangladesch eingewandert – stecken keine Klischees, sondern liebevolle und tiefe Einblicke.
Einblicke in Tech-Branche
Aber leider überträgt sich ihre Faszination für Cyrus nicht. Sein behauptetes Charisma wird zwar wiederholt unterstrichen, indem er fremde Menschen schnell für sich einnimmt. Da ihm aber kaum Weiterentwicklung zugestanden wird, kommt man ihm nicht nahe genug, um mehr zu entdecken als Egoismus.
Diese Liebesgeschichte ist die eine Idee zu viel in diesem Roman, in dem so viele Themen und Ideen – auch für sehr plausible technologische Weiterentwicklungen – mühelos und überzeugend verbunden werden. Es ist die andere Leidenschaft, die für die Rettung der Welt, die überzeugt und spannende, entlarvende sowie faszinierende Einblicke in die Gründerszene und Tech-Branche bietet.