Taiwans progressive Politik - Diktatur-Aufarbeitung, Ehe für alle, Atomausstieg Audio Player
Hongkong ist das Schreckgespenst
27:00 Minuten
China werde Taiwan bis 2050 kontrollieren, droht Präsident Xi. Die Inselbewohner wollen ihre Demokratie aber erhalten. So setzt die Regierung auf Eigenständigkeit und verweist auf Hongkong. Die Opposition will hingegen enge Kontakte zu Peking.
Wei Yang gestikuliert wild mit den Armen. Der junge Mann steht mit Kaffeebecher auf einem schmalen Fußweg an einer achtspurigen Straße in Taipeh. Direkt an einem Zaun. Dahinter ist das Parlament Taiwans. Hier ist er 2014 mit anderen Studenten der Sonnenblumen-Bewegung eingedrungen.
"Es waren etwa 500 bis 1000 Polizisten hier. Wir waren etwa 500 Leute und haben sie ausgetrickst, wir kamen durch das Tor am Seiteneingang und besetzten die Parlamentskammer."
Für 23 Tage besetzten die jungen Taiwaner ihr Parlament – erhielten viel Zuspruch, Essenspakete und immer mehr Sonnenblumen – so entstand der Name der Bewegung, die das Land seitdem verändert. 500.000 Menschen gingen in der Folge auf die Straße, um gegen den Kurs der damaligen Regierung zu protestieren. Die Kuomintang herrschte Jahrzehnte in Taiwan und setzte auf enge Partnerschaft mit dem Festland. Sie unterzeichnete ein Abkommen mit der Kommunistischen Partei nach dem anderen. Beim 23. lief das Fass über. Die Angst vor Chinas Einfluss wurde zu groß für junge Aktivisten wie Wei Yang:
"Zum ersten Mal in der Geschichte haben sich so viele junge Leute aus allen Berufen und Regionen in Taiwan versammelt und die Kuomintang-Regierung wirklich erschüttert. Früher dachten wir, die Kuomintang ist unberührbar. Aber in der folgenden Wahl 2016 gewann Oppositionskandidatin Tsai Ing-wen mit großem Abstand die Präsidentschaft."
Hongkong-Proteste beeinflussen Taiwan-Wahl
Tsai Ing-wen hat nun vier Jahre Regierungsarbeit hinter sich. Ihre Demokratische Fortschrittspartei eroberte erstmals auch gleichzeitig die absolute Mehrheit im Parlament. Mit dieser Machtfülle versuchte sie Chinas Einfluss auf Taiwan zu reduzieren, noch laufen 40 Prozent des Handels mit China, perspektivisch sollen südostasiatische Länder wichtiger werden.
Die Antwort aus Peking kam prompt: Die Kommunistische Partei kappte alle diplomatischen Kanäle – bis heute – und machte Taiwan sieben verbündete Länder abspenstig. Dazu kamen noch innenpolitische Kontroversen und so sanken Anfang 2019 die Umfragewerte von Tsai Ing-wen und ihrer Fortschrittspartei – bis zu den Protesten ab Sommer in Hongkong.
"Wir wollen die Eigenständigkeit von Taiwan beschützen. Wir wollen nicht Hongkong werden. Deshalb bin ich hier."
Sam ist 55 Jahre alt und ein treuer Anhänger von Präsidentin Tsai Ing-wen. Immer wenn sie in seinen Stadtteil Banqiao für einen Wahlkampfauftritt kommt, ist der Mann mit dem runden, freundlichen Gesicht da und schwenkt die grüne Fahne der Fortschrittspartei. Er habe auch schon mehrfach geschafft, ihre Hand zu schütteln, verrät er stolz. Ihre Politik findet er sehr gut.
"The policy of the president ist very correct. Taiwan needs to change."
Veränderung bedeutet für Sam eine Abkehr von der alten Linie der Kuomintang-Regierung, die das Wohl Taiwans in stärkerer Anbindung an den großen Bruder sieht. Das könne nicht gut gehen.
"Chinas Regierung will alle Teile Chinas vereinigen. Inklusive Hongkong und Taiwan. Aber wir möchten unser Leben wie jetzt in Taiwan behalten. Mit Demokratie. Einige wollen auch die volle Unabhängigkeit, aber meiner Meinung nach sollten wir den Status quo erhalten. Das ist die beste Wahl für Taiwaner."
Umfragen: Deutlicher Sieg von Präsidentin Tsai
Damit liegt Sam wenig überraschend genau auf der Linie von Präsidentin Tsai Ing-wen. Die weiß, wie gefährlich eine formale Unabhängigkeitserklärung ist. Das könnte ein militärische Eingreifen der Kommunistischen Partei provozieren und Taiwans Ende bedeuten. Also versucht Tsai den Status quo zu erhalten. Sie wehrt sich gegen Fake-News-Kampagnen, militärische Drohungen und den Druck auf Taiwans verbliebene Partnerländer. Taiwan soll als Leuchtturm der Demokratie in Asien dastehen, was ihr hier viel Beifall einbringt:
Endlich ist der Moment da, auf den Sam und ein paar Tausend andere gewartet haben. Durch das Meer aus grünen Fahnen schieben die Sicherheitskräfte die Präsidentin auf die Bühne.
Tsai Ing-wen lobt erst die Erfolge des hiesigen Abgeordneten, der die schlechte Parkplatz-Situation im Stadtteil verbessert habe. Dann kommt sie auf die Wirtschaft im Land zu sprechen, die von Quartal zu Quartal stärker werde. Die Steuereinnahmen stiegen. Mehr Geld fließe in die Versorgung der wachsenden Zahl der Älteren. Und für die Jüngeren würden neue Kitas gebaut, damit die Eltern arbeiten könnten. Und am Ende ruft die Präsidentin alle auf, Taiwans Demokratie und Eigenständigkeit zu beschützen. Die ganze Welt schaue auf die Wahlen in Taiwan. Da stimmt auch Sam in den Chor ein und ruft auf Taiwanisch: "Wählt sie!"
Laut Umfragen wird Tsai Ing-wen die Präsidentschaftswahl mit gut 20 Prozent Abstand gewinnen. Auch ihre Demokratische Fortschrittspartei liegt inzwischen vorn, kann aber wohl nicht mehr mit der absoluten Mehrheit im Parlament rechnen. Auch weil viele Jüngere zur "Partei der neuen Kraft" übergelaufen sind:
Politikerin, weil der Popstar anrief
Huang Yu-fen ist 29 Jahre und kommt gerade aus dem Stadtparlament von Taipeh. Sie ist die zweitjüngste Abgeordnete und mit ihren Parteifreunden sowas wie der frische Wind in Taiwans Demokratie. Ihre "Partei der neuen Kraft" gründete sich 2015 aus der Sonnenblumen-Bewegung und spricht als einzige laut von der Unabhängigkeit Taiwans. Das brachte ihr sechs Prozent der Stimmen, den Einzug ins nationale Parlament und einige Sitze in Städten wie Taipeh:
"Es war nicht in meinem Lebensplan vorgesehen, dass ich in die Politik gehe. Nein. Überhaupt nicht! Aber nach der Sonnenblumen-Bewegung ging ich 2015 zur Kampagne von Tsai Ing-wen, um dort als Assistentin von einem ihrer Berater zu arbeiten. Dann war ich länger bei dem neuen Komitee, dass aufklären soll, wo das große Parteivermögen der Kuomintang ist. Und dann fragte mich 2017 Freddy Lim, ob ich nicht seiner Partei beitreten wolle, um für das Stadtparlament zu kandidieren."
Freddy Lim ist ein Popstar in Taiwan und als er anrief, sei das sehr verrückt gewesen, Yu-fen kommt ins Kichern.
"It is crazy. Really, right? He and the situation is crazy."
Freddy Lim ist Metal-Musiker und wegen seiner martialischen Posen und Bemalung sehr bekannt auf der Insel. Er kämpft schon lange für Taiwans Unabhängigkeit und war schnell sowas wie das Vorzeigegesicht für die "Partei der neuen Kraft". Und er warb viele junge, engagierte Taiwaner an, wie Yu-fen auch in die Politik zu gehen, um das alte politische System zu verändern.
"Leute wie ich haben keine Familie, die schon in der Politik ist, wir haben kein Geld von großen Spendern. Und so kamst Du in Taiwan nie in die Politik. Für junge Leute, die das alles nicht haben, ist das unmöglich, haben alle gedacht. Aber ich wollte zeigen, doch, es geht!"
Yu-fen hat genau 13.213 Stimmen erhalten. Das sei nun ihre Glückszahl, die sie nie wieder vergessen werde. Besonders am Herzen liegen der 29-Jährigen soziale Themen, die in Taiwans Leistungsgesellschaft nicht sehr populär seien. Genauso wie Kritik an der Regierungspartei, weil die zum selben Lager gehöre.
"Es ist echt schwer. In Taiwan können wir die Parteien nicht aufteilen nach links und rechts. Bei uns sind die Parteien entweder auf Chinas Seite oder auf Taiwans Seite. Und wenn wir jetzt die Demokratische Fortschrittspartei von Präsidentin Tsai kritisieren, beschuldigen einige uns, dass wir der Kuomintang helfen, also der China-Seite. Deshalb ist es schwierig für uns, aber ich kann sagen: Wir kümmern uns um das Thema Arbeit: Der Mindestlohn muss erhöht, der Arbeitsschutz verbessert werden. Genauso wie die Bezahlung für Jüngere. Wir müssen sehr lang arbeiten, für sehr wenig Geld."
Wettstreit um das wahre China
Aufgebaut hat dieses harte kapitalistische System, das Taiwan großen Wohlstand bescherte, die alte Elite der Kuomintang. Die Partei gründete 1912 auf dem Festland die Republik China. Regierte dort bis zur Niederlage gegen Maos Kommunisten und flüchtete dann mit rund zwei Millionen Anhängern auf die östliche Insel Taiwan.
Angeführt von Chiang Kai-shek unterdrückte die Kuomintang die ansässige Bevölkerung und baute ihren Machtapparat neu auf, um irgendwann das Festland zurückzuerobern. Der Wettstreit um das wahre China läuft bis heute.
"My party has a very clear position. We are anti Taiwan independence."
Alexander C. Huang ist langjähriges Mitglied der Kuomintang. Unabhängigkeit für Taiwan? Auf keinen Fall. Das ist das Erbe der Festlandflüchtlinge, das auch seine Familie in sich trägt.
"Mein Vater ist aus China. Er kam 1951. Er dachte in den ersten zehn Jahren, das werde nur ein temporärer Aufenthalt. Aber jetzt ist er 93 und sagt: ‚Ich werde hier begraben, ich bin Taiwaner und Chinese.‘ Seine Generation hält alle hier für Chinesen. Aber er will nicht unter Herrschaft der Kommunisten leben. Meine Generation ist mit einer friedlichen Koexistenz zufrieden und die jüngere Generation sieht das sehr simpel: Wir sind Taiwaner, das verdammte China ist uns egal."
"Wir sind eine Demokratie"
Alexander C. Huang spricht viel mit Jüngeren. Der 60-Jährige ist Professor an einer Hochschule und will seinen Studenten vermitteln, dass die Kommunistische Partei nicht gleichbedeutend mit China ist. Er hat lange im Außenministerium gearbeitet, war Vizeminister im Ministerium für Festlandangelegenheiten.
"Wir sind eine Demokratie und drüben haben sie ein anderes System. Da kommen wir also nicht zusammen. Aber wir müssen die chinesische Gesellschaft und die Leute nicht hassen. Es gibt viel Austausch zwischen uns: religiöse Gruppen, die Wirtschaft, Akademikerprojekte. Wir müssen Politik trennen von anderen Elementen. Ich sage den Jüngeren immer: Es ist in Taiwans Interesse mit China klarzukommen. Wir müssen sie nicht lieben, aber wir müssen mit ihnen klarkommen, um Frieden zu sichern."
Aber welcher Frieden ist mit China möglich mit Blick auf die Unterdrückung der Demokratie in Hongkong? Das sei nur ein Wahlkampfthema, meint Alexander C. Huang. Hongkong sei nicht mit Taiwan vergleichbar. Die Demokratische Fortschrittspartei nutze das nur, um den Leuten Angst zu machen und provoziere so Chinas Kommunistische Partei weiter. Das müsse endlich aufhören.
"Ich kann die Gefahr über die Taiwan-Straße fühlen. Wir haben einen sehr sprunghaften US-Präsidenten. Unvorhersehbar, was er tut. Und wir haben einen chinesischen Führer mit sehr klaren Ansichten: Xi Jinping will China wieder groß machen. Er bestraft uns, wo er kann: Vor vier Jahren hatten wir noch 22 verbündete Länder, jetzt sind es nur noch 15. Mit Tsai Ing-wen würden wir vier weitere Jahre diplomatische Funkstille zum Festland haben, ist das gut für Taiwan? Deshalb bin ich für einen Regierungswechsel zurück zur Kuomintang. Bei der Wahl geht es darum, Taiwan eine Atempause zu verschaffen."
Falls die Kuomintang diese Wahl wieder verliere, werde das verheerend für das Überleben der Partei in ihrer ursprünglichen Ausrichtung, fügt Professor Huang noch an. Und: Sie habe ein Nachwuchsproblem und bilde die Veränderungen in der Gesellschaft ungenügend ab. Ähnlich wie bei den US-Republikanern nutze diese Situation ein Außenseiter, der mit Hilfe der sozialen Medien zum Überraschungskandidaten für die Präsidentschaft wurde.
Falls die Kuomintang diese Wahl wieder verliere, werde das verheerend für das Überleben der Partei in ihrer ursprünglichen Ausrichtung, fügt Professor Huang noch an. Und: Sie habe ein Nachwuchsproblem und bilde die Veränderungen in der Gesellschaft ungenügend ab. Ähnlich wie bei den US-Republikanern nutze diese Situation ein Außenseiter, der mit Hilfe der sozialen Medien zum Überraschungskandidaten für die Präsidentschaft wurde.
Präsidentschaftskandidat Han Kuo-yu: "Taiwans Trump"
Hier im Süden von Taiwan in Kaohsiung – wo täglich Schiffe am größten Containerhafen des Landes ankommen – regiert Han Kuo-yu. Mayor Han nennen ihn seine Anhänger respektvoll. Er tue endlich etwas und spreche so wie die einfachen Leute. Kritiker sagen, er klopfe frauen- und ausländerfeindliche Sprüche. So schrieben einige schon vom "taiwanischen Trump", der zum Erstaunen aller 2018 die zweitgrößte Stadt Taiwans eroberte. Nun soll er für die Kuomintang gleich durchstarten zum höchsten Amt im Staate. In Kaohsiung trauen ihm das viele zu.
"If he becomes president, I even believe Kaohsiung will win."
José Lee fährt mit Touristen durch den Hafen von Kaohsiung und erklärt ihnen die massiven Veränderungen – weg von Industrie-Hallen – hin zu Kunst und Kultur. Seine ganze Familie werde Han Kuo-yu wählen, weil er nah an der Bevölkerung sei. Wer ihn kenne, würde ihn mögen. Und er halte, was er verspreche.
"Das Schlimme hier ist: Wenn die Regenzeit kommt, haben wir immer Überflutungen in Kaohsiung. In nur einigen Monaten hat er das alles gelöst. Die andere Bürgermeisterin war zwölf Jahre hier und nie hat es geklappt."
Die Bürgermeisterin war von der Demokratischen Fortschrittspartei, die spalte nur das Land, meint der Tour-Guide:
"Sie mögen unser Land nicht, sie mögen nicht unsere Hymne und sie mögen nicht unsere Nationalflagge."
Die Flagge von Taiwan ist gleichzeitig die Flagge der Kuomintang. Die hat das so festgelegt in ihrer autoritären Herrschaftszeit. Andere Parteien zeigen sie kaum. Im Wahlkampf von Han Kuo-yu tauchen nun Hymne und Flagge wieder exzessiv auf, um nationalistische Gefühle zu wecken. Sehr zur Freude seiner älteren Anhänger, wie José Lee. So wie der 56-Jährige es empfindet, war das Land früher vereint und friedlich. Jetzt mit den anderen Parteien, gebe es eine Spaltung.
"Nachdem wir demokratischer wurden, verschlechterte sich unsere Wirtschaft. Und die Gesellschaft auch. Das sagen die Medien nie. Und über die Japaner wird auch immerzu positiv gesprochen. Die haben während ihrer Kolonialzeit auf Taiwan 300.000 Menschen getötet und die Kuomintang weniger als 10.000."
Die Aufarbeitung dieser Zeit des Terrors unter der Kuomintang läuft gerade erst an. Sie ist ein Teil der Neuausrichtung. Vor allem die Jüngeren fragen: Wer sind wir eigentlich und wo wollen wir hin? Ein schmerzhafter Prozess, der die Gesellschaft und auch Familien spaltet. Ein offen ausgetragener Streit – wie das so ist in einer Demokratie.
Die Recherche des Autoren wurde im Rahmen einer Reise des gemeinnützigen Vereins "journalists.network" realisiert.