"Grenzüberschreitende Gemeinschaft ist immer politisch"
Seit 75 Jahren besteht in Frankreich die christlich-ökumenische Gemeinschaft von Taizé. Ihr Gründer Frère Roger wurde vor 10 Jahren ermordet. Dessen Erbe verwaltet sein Nachfolger Frère Alois, der in der Bruderschaft eine starke politische Dimension des Evangeliums verwirklicht sieht.
Kirsten Dietrich: 100, 75, 10 – für die Gemeinschaft im französischen Taizé ist dieses Jahr voller runder Zahlen: Vor 100 Jahren wurde der Gründer Frère Roger geboren, vor 10 Jahren wurde er von einer geistig verwirrten Frau ermordet, am Altar seiner Gemeinschaft. Dazwischen liegen 75 Jahre, die die Bruderschaft, auf Französisch Communauté, inzwischen besteht. 75 Jahre, in denen jährlich bis zu 100.000 Besucher, meist junge Menschen, ins französische Burgund reisen, um dort mit den Brüdern in Verbundenheit über die Kirchen hinweg zu singen, zu beten und zu leben. Taizé hat seit dem Tod des Gründers einen Leiter, der aus Deutschland kommt: Frère Alois Löser. 75 Jahre – das ist eine gute Gelegenheit, den jetzigen Leiter der Kommunität nach dem Erbe zu fragen: Womit hat der visionäre Frère Roger seine Gemeinschaft am meisten geprägt?
"Die Demarkationslinie war nicht weit von Taizé"
Frère Alois: Man kann sich das kaum mehr vorstellen, glaube ich, dass er als 25-Jähriger nach Taizé kam von der Schweiz, und es war Krieg – das war 1940, Frankreich war halb besetzt, die Demarkationslinie war nicht weit von Taizé. Und Frère Roger wollte eine Kommunität gründen von Christen, die sich versöhnen, dass die Christen mit der Versöhnung unter den verschiedenen Konfessionen für Frieden arbeiten können. Also es war auch ein weitblickendes Engagement, das er gehabt hat. Und er hat dieses Haus gekauft in Taizé, wo wir bis heute leben, und hat dann das gemeinsame Leben mit einigen Brüdern angefangen. Er wollte nicht eine große, große Kommunität gründen, sondern eine kleine Gruppe von Menschen, die wirklich Versöhnung tagtäglich leben. Und inzwischen sind wir an die 100 Brüder aus etwa 30 verschiedenen Ländern, die dieses Leben, das Frère Roger begründet hat, fortsetzen.
Dietrich: Bei uns steht Taizé ja vor allen Dingen, würde ich mal so denken, für Gottesdienste, in denen es sehr leicht möglich ist, eine gemeinsame liturgische Sprache für ganz unterschiedliche Gruppen zu finden. Inwieweit ist dieses Taizé außerhalb von Taizé verbunden mit der tatsächlichen Gemeinschaft im Burgund?
Alois: Ja, die vielen Jugendlichen, die gerade auch aus Deutschland nach Taizé kommen, stellen sich oft die Frage, wie sie die Erfahrung des gemeinsamen Gebetes in Taizé auch zu Hause fortsetzen können. Auch Jugendliche, die vielleicht mit Kirche nicht so viel zu tun haben, aber die in Taizé Werte entdecken wie Stille, auch auf einen Text hören, auf einen Bibeltext hören und dann Stille haben. Da muss nicht gleich jemand da sein, der erklärt, was man glauben soll, sondern dass man zunächst auch hinhören kann auf einen Text, und dann das gemeinsame Singen, das einerseits etwas Innerliches ist und andererseits auch etwas Verbindendes ist. Viele wollen das zu Hause dann fortsetzen, aber wir organisieren keine strukturierte Taizé-Bewegung, wir wollen das nicht. Wir sagen allen Jugendlichen, geht in eure Ortskirchen und sucht dort Leute, wie ihr in zwei Richtungen euch engagieren könnt, einerseits ein gemeinsames Gebet und andererseits auch für Solidarität, denn diese beiden Werte des Evangeliums können wir nie voneinander trennen. Aber wie das vor Ort aussehen soll, das überlassen wir den Leuten selbst.
Dietrich: Wie politisch, wie aktuell, wie zeitbezogen ist dann das, was Sie in Taizé spirituell machen?
"Man kann das Gebet nicht trennen von den anderen Dimensionen"
Alois: Grenzüberschreitende Gemeinschaft ist immer politisch irgendwo. Letztes Jahr waren viele Jugendliche aus der Ukraine in Taizé, und auch aus Russland sind Jugendliche gekommen. Und dass die miteinander ins Gespräch kommen konnten, ist doch ganz wichtig heute, dass wir Vorurteile abbauen können zwischen Ländern, auch zwischen Kontinenten, dass Menschen, die den Eindruck haben, sich nicht Gehör verschaffen zu können, dass die zu Wort kommen. Das ist, glaube ich, eine starke politische Dimension des Evangeliums, die in Taizé sehr lebendig ist.
Dietrich: Aber das alles passiert unter dem Dach des gemeinsamen Gebets, des gemeinsamen Singens, der gemeinsamen Liturgie, also das ist jetzt nicht so, dass Sie da auch noch irgendwie politische Aktionen organisieren oder den Schulterschluss zum Beispiel mit einer Bewegung wie Attac oder irgend so etwas versuchen?
Alois: Es kommen Leute aus verschiedenen Bewegungen nach Taizé, die dann ihre Erfahrungen in Gesprächsgruppen einbringen. In Taizé gibt es neben dem gemeinsamen Gebet die Gesprächsgruppen, und das sind einerseits Bibelgruppen, aber andererseits dann auch Themengruppen, die sich mit politischen, sozialen, kulturellen Fragen, auch Fragen der Kunst auseinandersetzen, und alle diese Dimensionen sind wichtig in Taize. Man kann das Gebet nicht trennen von den anderen Dimensionen. Und unser Beitrag ist, solche Grenzüberschreitungen konkret zu leben. Jetzt diese Woche wird in Taizé eine Flüchtlingsfamilie aus dem Irak ankommen, die wir aufnehmen, die unbedingt weggehen wollten, die keine Zukunft mehr sahen für sich, was sehr schade ist. Wir wollten, dass die Christen dort bleiben, aber diese Familie sagte, wir sehen keine Zukunft mehr, wir wollen auswandern. Wir nehmen sie in Taizé auf, wie schon andere Flüchtlingsfamilien. Das ist unser Beitrag der Kommunität.
Dietrich: Ihre Gemeinschaft besteht seit 75 Jahren – wie haben sich die Fragen verändert, mit denen Jugendlichen zu Ihnen kommen?
"Taizé ist nur ein Durchgangsort, ein Pilgerort"
Alois: Ganz am Anfang der Kommunität war es vor allem die Ökumene, auch auf theologischer Ebene, wie können die Kirchen theologisch einander näherkommen, das war ganz wichtig. Dann in den 60er-, 70er-Jahren hat Frère Roger schon gesehen, dass es wie eine Entmutigung gibt, der theologische Dialog allein unter Fachleuten, unter Theologen reicht nicht aus, es braucht eine andere Dimension in der Ökumene. Und in dieser Zeit kamen auch mehr und mehr Jugendliche nach Taizé, auch die sehr gesellschaftskritisch waren und die in Taizé ein Forum fanden, wo sie sich begegnen konnten. Frère Roger hat diesen Jugendlichen zugehört, ist darin auch sehr, sehr weit gegangen, auch Jugendliche, die wirklich die Gesellschaft radikal verändern wollten, und Frère Roger sagte, wenn wir diesen Jugendlichen nicht zuhören, werden sie sich der Kirche abwenden. Es gab dann ein Konzil der Jugend in den 70er-Jahren in Taizé, und danach haben wir gesagt, wir dürfen die Jugendlichen nicht auf Taizé zentrieren, sondern Taizé ist nur ein Durchgangsort, ein Pilgerort, man kommt dorthin wie ein Pilger. In den letzten 20 Jahren, kann man sagen, sind sicher Glaubensfragen stärker geworden. Jugendliche fragen sich, worauf kann ich in einer schnelllebigen Welt, in einer Welt, wo es oft schwerfällt, sich zu orientieren, worauf kann ich wirklich bauen, was ist zuverlässig, worauf kann ich wirklich vertrauen. Und insofern kommen auch Glaubensfragen stärker in den Vordergrund in Taizé.
Dietrich: Muss sich Taizé in Zukunft verändern, und in welche Richtung kann das gehen?
Alois: Sicher muss sie sich verändern, aber in welche Richtung, das kann ich nicht sagen. Im Augenblick sehen wir, dass die Frage der Interkulturalität, ein echtes Aufeinander-Hören zwischen den Kulturen nicht nur politisch immens wichtig ist, sondern für die Christen immens wichtig ist. Die Christen hätten in der globalisierten Welt eine Vorreiterrolle zu spielen, damit Globalisierung nicht nur als Ausbeutung gelebt wird oder nicht nur als Unterdrückung von Minoritäten, von kulturellen Minoritäten, sondern Globalisierung als größere Freiheit, als größere Beweglichkeit. Globalisierung kann helfen, Ängste abzubauen, wenn sich Menschen wirklich einander begegnen, und Jugendliche wollen heute in einer globalisierten Welt leben, und als Christen können wir noch stärker uns die Frage stellen, wie diese Globalisierung positiv gelebt werden kann.
Dietrich: Die Gemeinschaft von Taizé feiert ihr 75-jähriges Bestehen und den 100. Geburtstag ihres Gründers. Ich sprach mit dem Leiter Frère Alois.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.