Takis Würger: "Stella"

Die Wahrheit hat sie mit ins Grab genommen

"Stella" von Takis Würger
Stella Goldschlag war zwischen 1942 und 1945 in Berlin eine sogenannte "Greiferin". © Carl Hanser Verlag/imago/Arkivi
Von Gerrit Bartels |
Die jüdische Sängerin Stella Goldschlag hat während des Zweiten Weltkriegs andere Juden an die Gestapo verraten. Der Journalist Takis Würger hat über ihr Leben einen Roman geschrieben und rekonstruiert dafür das dekadente Berliner Nachtleben.
Vermutlich geht es vielen Menschen so wie es dem "Spiegel"-Reporter und Romanautor Takis Würger ging, als er den Namen Stella Goldschlag zum ersten Mal hörte: Wer ist oder war das denn? Obwohl es schon einmal ein Buch über Goldschlag von einem ihrer Mitschüler gegeben hat, eine daraus gefilterte "Spiegel"-Serie und vor drei Jahren auch ein Musical in der Neuköllner Oper in Berlin, sind dieser Name und das dazugehörige Leben nie besonders bekannt geworden.
Was vielleicht daran liegen mag, dass Stella Goldschlag das Böse repräsentiert, zumal von einer Seite, mit der dieses Böse in Zeiten des Nationalsozialismus nicht assoziiert wird: der jüdischen. Goldschlag, 1922 als einzige Tochter eines Komponisten und einer Konzertsängerin in Berlin geboren, war in den Jahren 1942 bis 1945 eine sogenannte Greiferin. Sie half der Gestapo, untergetauchte jüdische Mitbürger aufzuspüren. Ihre mutmaßliche Motivation zu Beginn: die eigenen Eltern vor dem Transport in ein Konzentrationslager bewahren. Und obwohl Stella Goldschlag das nicht gelang, arbeitete sie weiterhin als Greiferin.

Würger konzentriert sich auf das Jahr 1942

Als Takis Würger von Goldschlag erfuhr, beschloss er sofort, einen Roman über sie zu schreiben: "Stella". Doch wie so ein Leben erzählen, das nach dem Zweiten Weltkrieg turbulent und tragisch weiterging, mit einer Verurteilung zu zehn Jahren Zuchthaus, mit mehreren Ehen – und das 1992 mit einem Selbstmord endete? Würger konzentriert sich auf das Jahr 1942, in dem Goldschlag selbst untertaucht, und in dem sie mutmaßlich mit ihrer Greiferinnentätigkeit beginnt (tatsächlich wohl eigentlich erst nach einer Verhaftung durch die Gestapo im Herbst 1943).
Vor allem aber beginnt er seinen Roman mit einer erfundenen Figur, einem Mann namens Friedrich, der im selben Jahr wie Goldschlag geboren wird und in einem Ort nahe des Genfer Sees in großbürgerlicher Umgebung aufwächst. Diesen zieht es mit 20 Jahren nach Berlin, nachdem er vom Nachtleben der deutschen Metropole gehört hat. Und er will den Gerüchten nachgehen über die Möbelwagen, die Juden abtransportieren. In Berlin lernt Friedrich Stella kennen, die sich Kristin nennt, und verliebt sich in sie, zunächst ohne zu wissen, wer sie genau ist und was sie macht.

Ein Versuch, das Verruchte Berlins einzufangen

Stella sitzt als Modell für angehende Künstler, sie plant eine Karriere als Sängerin, sie beeindruckt das Ambiente, in dem Friedrich abgestiegen ist, das dem Adlon nachempfundene Grand Hotel am Pariser Platz, und sie liebt die Genüsse, die ihr der SS-Scherge Tristan von Appen verschafft. Würger versucht, das Urbane, Dekadente, Verruchte Berlins in den Jahren des Krieges einzufangen, und es lässt sich darüber streiten, ob das jetzt der richtige Zugang zu einer Figur wie Stella Goldschlag ist. Andererseits scheint diese tatsächlich darauf aus gewesen zu sein, ihrer Herkunft zu entkommen, schwebte ihr eine Jazz-Sängerinnen-Karriere vor, ein Leben auf der Überholspur, weshalb sie mutmaßlich bereit war, über Leichen zu gehen.
Als Ausgleich zu diesem brodelnd-wahnsinnigen Berlin hat Würger seinen Roman zum einen mit monatlichen Zeitleisten des Jahres 1942 versehen, auf denen der Irrsinn der NS-Diktatur, des nationalsozialistischen Alltags und des Krieges stichwortartig abgebildet wird (allerdings auch die Geburten von Paul McCartney, Cassius Clay oder Wolfgang Schäuble notiert werden, warum auch immer). Zum anderen gibt es immer wieder mal kursiv gesetzte Textstellen des Militärtribunals, in dem Zeugen gegen Goldschlag aussagen und diverse Fälle ihres Verrats schildern. So kann sich Würger auf seine Binnengeschichte konzentrieren, die er schlank und knapp hält, auch sprachlich, dabei allerdings gelegentlich etwas zu sehr auf den Effekt bedacht – mit knackigen Sätzen am Ende einzelner Absätze oder Kapitel.

Ihre eigene Wahrheit hat sie mit ins Grab genommen

Es zeichnet diesen Roman aus, dass er sich in der Figur seines ambivalenten Erzählers ("Ich war in dieses Land gekommen, weil ich mir gewünscht hatte, dass die Stärke Deutschlands auf mich überspringt") mit Verurteilungen und platten Schuldzuweisungen seiner eigentlichen Hauptfigur, eben jener Stella zurückhält: "Ich wusste nicht, was von dieser Frau blieb, wenn ich alle Lügen abzog."
Der Wahrheit ist Friedrich nicht viel näher gekommen – und ihre ganz eigene Wahrheit, die hat Stella Goldschlag mit in ihr Grab genommen.

Takis Würger: "Stella"
Hanser Verlag, München 2019
220 Seiten, 22,00 Euro

Mehr zum Thema