Tanguy Viel: „Das Mädchen, das man ruft“

Männer, Mädchen, Macht

05:29 Minuten
Auf dem Cover von "Das Mädchen, das man ruft" sind Autorenname und Buchtitel zu sehen, die auf das Foto einer steinernen Treppe mit gusseisernem Geländer gedruckt sind.
© Wagenbach

Tanguy Viel

Aus dem Französischen von Hinrich Schmidt-Henkel

Das Mädchen, das man ruftWagenbach, Berlin 2022

160 Seiten

20,00 Euro

Von Dirk Fuhrig |
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War es Machtmissbrauch oder stumme Zustimmung? Tanguy Viel beleuchtet das Abhängigkeitsverhältnis einer jungen Frau von einem Karrierepolitiker – und die hilflose Reaktion der französischen Justiz.
Der Titel klingt in der Übersetzung noch seltsamer als die komplizierte Konstruktion im Original: „La fille qu’on appelle“. Im Deutschen denkt man bei Mädchen vor allem an eine Minderjährige, im Französischen hat es eher die Bedeutung von „Girl“. Und um ein „Call Girl“ geht es hier, ein „Mädchen, das man ruft“.

Wohnung gegen Sex

Laura stammt aus einer kleinen Stadt in der Bretagne. Mit 16 wurde sie vor dem Gymnasium angesprochen, um „Modeaufnahmen“ zu machen. In Unterwäsche prangt sie auf Litfaßsäulen oder, ganz nackt, in erotischen Magazinen, die „ganz oben“ in den Auslagen der Kioske liegen.
Der 160 Seiten kurze, sehr suggestiv erzählende Roman lebt von Ellipsen, von Auslassungen. So erfährt man auch nicht, warum Laura nach einigen Jahren in einer Großstadt wieder in die Heimat zurückkehrt, wo ihr Vater, ein abgehalfterter Box-Champion, sich sein Geld als persönlicher Fahrer des Bürgermeisters verdient. Um an eine Wohnung zu kommen, spricht Laura auf dem Amt vor. Der Bürgermeister lässt seine Beziehungen spielen und bringt sie in einem Amüsierschuppen unter. Als Lohn erwartet er sexuelle Dienstleistungen.

Warum sagt sie nie „Nein“?

Das seltsame an diesem „Verhältnis“, das Laura im Rückblick während ihrer Anzeige bei der Polizei schildert: Es hat nie direkte körperliche Gewaltanwendung gegeben. Die Affäre entwickelte sich, so sollen wir annehmen, unter dem Psychodruck, den der doppelt so alte Politiker auf die 20-Jährige ausgeübt hat. Warum sie nie „Nein“ sagte, kann Laura auch während ihrer Aussage vor den Beamten nicht begründen.
Kann man hier von sexueller Nötigung sprechen? Der Roman legt es nahe, indem er das (soziale) Gefälle zwischen dem Bürgermeister und der jungen Frau als ausreichend ansieht: „Ganz sicher lag es daran, dass sie beide sich von Anfang an nicht auf Augenhöhe begegneten, sie, Laura Le Corre, zwanzig Jahre alt, Studentin, und er, Quentin Le Bars, achtundvierzig Jahre, Bürgermeister der Stadt“.

Eindimensionale Charaktere

Tanguy Viel, unter anderem berühmt für seine spannenden bretonischen Kriminalromane, zeichnet hier seine Charaktere eindimensional bis zur Karikatur. Laura wird als Person kaum kenntlich, noch weniger der fiese Bürgermeister. Und erst recht nicht Lauras Vater Max, der als das Stereotyp eines gutmütig-naiven Preisboxers auftritt, der ewig nicht kapiert, was sich direkt vor seinen Augen zwischen seinem Chef und seiner Tochter abspielt. Als er es schließlich merkt, rastet er aus und verlegt sich auf Selbstjustiz.
In Frankreich wurde das Buch viel gelobt und als Favorit für den Prix Goncourt gehandelt, aber auch als „politisch korrektester Roman“ der Saison beschmunzelt. Also ein höchst umstrittenes Buch.
Sprachlich, stilistisch ist „Das Mädchen, das man ruft“ herausragend. Tanguy Viel erzählt in einem knappen, mitreißenden, atemlosen, sehr filmisch-pointierten Ton (in wirklich perfekter Übersetzung durch Hinrich Schmidt-Henkel!). Gerade die vielen Leerstellen, die man sich zusammenreimen muss, verstärken diesen verführerischen Lesesog. 

Klischees wie in einer Vorabend-Soap

Inhaltlich ist der Roman jedoch wirklich allzu simpel gestrickt: Der schmierige Machtmann (der später Minister in Paris wird); die duldsame, willenlose Unschuld vom Lande; der stupide Vater, der nach einem blutigen K. O. im Ring wortwörtlich den Verstand verliert; der panisch-duckmäuserische Staatsanwalt, der den Minister natürlich nicht anklagen wird.
Statt einer interessanten Studie über die Frage, ab welchem Moment eine sexuelle Abhängigkeit in Missbrauch mündet, rührt Tanguy Viel wirklich alles an Klischees zusammen. Sein Roman wäre bestens geeignet als Drehbuch für eine Vorabend-Soap.
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