"Man darf nicht schweigen"
"Es ist ein widerlicher, hybrider Krieg", sagt die ukrainische Schriftstellerin Tanja Maljartschuk über die erneute Eskalation zwischen Russland und der Ukraine. Schriftsteller müssten sich auf die Seite der Gerechtigkeit stellen, fordert sie.
Joachim Scholl: Wer hat wen provoziert? Wer ist verantwortlich für die jüngste militärische Eskalation zwischen der Ukraine und Russland? Diese Fragen wurden in der letzten Woche diplomatisch, politisch und beständig öffentlich diskutiert. Und sie haben den jahrelangen Konflikt mit bislang über 10.000 Toten wieder zurück in die Schlagzeilen unserer Nachrichten gebracht. Wir wollen jetzt dazu die Meinung einer ukrainischen Schriftstellerin hören, die mittlerweile in Wien lebt, auch in Deutschland immer bekannter wird. In diesem Jahr hat sie den Ingeborg-Bachmann-Preis gewonnen: Tanja Maljartschuk. Wir erreichen sie heute in Breslau. Guten Morgen, Frau Maljartschuk!
Tanja Maljartschuk: Guten Morgen!
Scholl: Mit welchen Empfindungen verfolgen Sie denn die aktuellen Ereignisse, diesen Krieg, der ja für uns so merkwürdig fern scheint und dann mit einem Mal wieder ganz nahe ist?
Maljartschuk: Mit großer Unruhe, würde ich sagen. Für mich ist dieser Krieg nirgendwo verschwunden. Ich weiß: Hier im Westen war es in den letzten Jahren so, als ob der Krieg vorbei ist. Also wenn man das nicht mehr in den Medien sieht oder von den Medien hört, dann ist es irgendwie vorbei. Aber für uns Ukrainer war das immer so: Jede Woche ein paar Tote, jede Woche etwas Neues. Es ist ein ständiger Terror, eine Unruhe, und wieder eine Eskalation. Ja, das war ein Schock, weil es zum ersten Mal eigentlich so war, dass die Ukraine und Russland wirklich zusammengestoßen sind. Das ist nicht mehr versteckt.
"Jetzt versucht die Ukraine wirklich unabhängig zu werden"
Scholl: Sie sind in der Ukraine geboren, haben dort studiert, sind Schriftstellerin geworden und haben den ganzen Prozess der Unabhängigkeit Ihrer Heimat ja gewissermaßen hautnah miterlebt. Wie sehr hat Sie das als Ukrainerin und vielleicht auch als Schriftstellerin beeinflusst?
Maljartschuk: Ich war wirklich klein. Ich erinnere mich wirklich ganz wenig daran. Aber an was ich mich erinnere sind diese Jahre, die 90er Jahre haben mich viel mehr geprägt als diese Unabhängigkeitszeiten. Ich glaube – leider –, wenn man diese Ereignisse jetzt betrachtet, dass die Unabhängigkeit der Ukraine eigentlich nicht stattgefunden hat. Nur jetzt und sehr schwer – mit vielen Toten – versucht die Ukraine, wirklich unabhängig zu werden.
Roman über einen vergessenen Politiker
Scholl: Im nächsten Frühjahr wird ein neuer Roman von Ihnen erscheinen, Frau Maljartschuk, wo es um einen ukrainischen Volkshelden geht. Wir durften schon ein bisschen spicken und vorlesen sozusagen. Haben diese nationalen Konflikte in Ihrer Heimat Sie dazu bewegt, sie inspiriert zu diesem Buch?
Maljartschuk: Teilweise schon, teilweise habe ich auch deswegen das Buch geschrieben, weil ich schon lange im Ausland lebe und mein Held, Wjatscheslaw Lypynskyj – ein wichtiger ukrainischer Philosoph, Politiker, gescheiterter Politiker – musste auch emigrieren und vor den Bolschewiken fliehen, ist in Österreich gestorben und wurde vergessen. Und auch in der Ukraine wurden alle seine Spuren irgendwie ausgewischt. Das ist sehr schade, weil ich finde, dass das, was dieser Mann gesagt hat, sehr wichtig war für die Ukraine. Niemand hat ihm geglaubt. In dieser Zeit waren – leider wie heute – diese zwei Ideologien sehr wichtig: die Linke und die Rechte. Und er hat immer versucht, in der Mitte zu bleiben und mit klarem Verstand die Sachen zu retten und die Gesellschaft nicht in irgendeiner Weise zu teilen.
"Es ist ein widerlicher hybrider Krieg"
Scholl: Sie haben sich immer wieder auch politisch zu Wort gemeldet. 2014, als Russland die Krim annektierte, haben Sie einen großen Artikel geschrieben, "Russland, ich liebe dich" – ein polemischer Artikel. Wie würden Sie denn eigentlich die Rolle überhaupt der Schriftsteller und Intellektuellen bei diesem jetzt permanenten Prozess auch dieses Konflikts einschätzen, der ja immer auch eben so eine Auseinandersetzung mit der russisch-sowjetischen Vergangenheit ist, wie Sie sie in Ihrem Roman jetzt schildern?
Maljartschuk: Es ist eigentlich schwer für mich. Ich bin keine Politikerin. Ich analysiere die Dinge, die passieren, sehr gerne, aber ich bin nicht sicher, ob das, was ich denke, wirklich wahr ist oder ob ich überhaupt das Recht habe, mich darüber zu äußern. Aber ich glaube, wenn man wirklich solche widerlichen Sachen sieht, darf man nicht schweigen. Man darf nicht schweigen über diese Gefangenen in Russland – darunter auch der ukrainische Regisseur Oleg Senzow –, die schon seit 2014 in russischen Gefängnissen sitzen. Man darf darüber nicht schweigen. Endlich hat Putin auch selber gestanden, dass es ein Krieg ist und kein Konflikt, keine Krise in der Ukraine. Es ist ein widerlicher, hybrider Krieg. Und das ist auch das Schlimmste.
Was machen die Schriftsteller? – Wichtig ist, dass sie die Sachen nicht schlimmer machen, dass sie auf der Seite der Gerechtigkeit sind und auch den Mut haben, die Wahrheit zu sagen über das, was in der Ukraine passiert ist. Das ist schwer. Die Gesellschaft ist im Angesicht des Krieges auch ein bisschen rechts geworden. Man muss sagen: Es gibt viele innere Konflikte. Aber das wird so lange kein Ende haben, bis der Krieg da ist. Also mitten in Europa. Das ist schrecklich.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.