Tanjev Schultz über die NSU-Ermittlungen

"Skandalöse Vorgänge in den Behörden"

Ein Portrait-Foto des Autors und Professors Tanjev Schultz
"Ein Buch über den NSU zu schreiben, ist nicht gerade ein Vergnügen." Mit diesen Worten endet das neue Buch von Tanjev Schultz. © Journalistisches Seminar Mainz
Moderation: Florian Felix Weyh |
In Chemnitz fanden die drei NSU-Mitglieder jahrelang Unterschlupf. In seinem 600 Seiten starken Buch "NSU" thematisiert Tanjev Schultz auch das Versagen des Staates. Falsche Spuren wurden exzessiv verfolgt, richtige Spuren ignoriert oder gelöscht.
Florian Felix Weyh: Als Gast begrüße ich nun Tanjev Schultz. Er ist Professor am Journalistischen Seminar der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz. Zuvor war er zehn Jahre lang innenpolitischer Redakteur bei der "Süddeutschen Zeitung". Guten Morgen, Herr Schultz!
Tanjev Schultz: Guten Morgen!
Weyh: Beinahe 600 Seiten umfasst Ihr Buch "NSU. Der Terror von rechts und das Versagen des Staates", das gerade herausgekommen ist. Picken wir uns aus der Fülle der Themenstränge, getrieben von der Aktualität, zunächst einen Aspekt heraus, der lautet Chemnitz. Warum musste ich, als ich von den Aufmärschen und Treibjagden hörte, sofort an die Terrorgruppe NSU denken?
Schultz: Mir ging es wie Ihnen, ich musste da auch sofort dran denken, und zwar nicht nur, weil es oberflächlich gesehen da und dort um Neonazis und Rechtsextremisten ging oder geht, sondern weil tatsächlich Chemnitz für mehrere Jahre der Ort war, an dem die drei Neonazis Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt, die dann den NSU bildeten, untergetaucht waren, mit großer Unterstützung der rechtsextremen Szene in Chemnitz, die dort in den Kreisen der sogenannten Organisation Blood and Honour, die bundesweit agierte, aber eben auch in Chemnitz eine starke Position hatte, dort eben aufgefangen wurde, in Chemnitz, und dann auch diverse Helfer hatte. Die drei wurden dort untergebracht in verschiedenen Wohnungen und auch versorgt.

Schon der NSU bekam sensible Zeugenaussagen in die Hände

Weyh: Jetzt kann man nicht eins zu eins verlängern, aber es wundert einen nicht so richtig, dass da in Chemnitz diese Szene noch existiert.
Schultz: Das wundert einen nicht. Aber was ja auch erschreckend ist, dass einen leider nicht so richtig wundert, dass die Behörden erneut Dinge nicht im Griff haben. Das war damals so, das ist, wenn auch jetzt in anderen Dimensionen, heute so. Das betrifft auch verschiedene Behörden. Es betrifft die Polizei, es betrifft teilweise den Verfassungsschutz, es betrifft die Justiz. Ich musste auch an diesen Fall des jetzt geleakten Haftbefehls denken, denn zum Beispiel auch im NSU-Fall ist es auch so, dass da eine Zeugenvernehmung, die eigentlich nicht in die Hände gehört, gefunden wurde, angekokelt in dem Brandschutt in Zwickau, in der Wohnung der drei Untergetauchten, eine Ermittlung, die auch einen sächsischen Rechtsextremisten betraf. Und so denkt man dann unwillkürlich tatsächlich auch an den NSU, wenn man jetzt an Chemnitz denkt.
Weyh: Fangen wir mal ganz früh an, 1998 im Januar. Dieses Trio ist zur Fahndung ausgeschrieben, es wird verdächtigt, Bombenanschläge zu planen. Der Versuch der Festnahme schlägt schon damals dramatisch fehl. Sie schreiben "Der Fehlschlag bei der Untersuchung ähnelt einem falsch geknöpften Hemd. Ein Fehler ergibt den nächsten, und am Ende ist alles schief und krumm." Da kann man noch denken, das waren Fehler. Waren es nur ständig Fehler, über elf, zwölf Jahre hinweg, oder gab es systematische Gründe, warum die Aufklärung so schief ging?

Föderales Ämter-Wirrwarr trifft auf Vorurteile

Schultz: Es waren, glaube ich, nicht nur einzelne Fehler, die man vielleicht verzeihen könnte, die auch überall natürlich vorkommen, in allen Behörden und bei allen möglichen Vorgängen, sondern es waren teilweise tatsächlich systemische, strukturelle Gründe, die dann sich verkettet haben mit vielen einzelnen Fehlern, die man aber auch in einer großen Breite betrachten muss. Das ist zum einen dieses Ämter-Wirrwarr, das vielleicht seine gewisse Berechtigung darin haben mag, dass man im Föderalismus eben auch verhindern will, dass so ein großer, zentraler Machtapparat entsteht im Sicherheitsbereich. Aber hier hat es dazu, im NSU-Fall und auch später in anderen Fällen wie Anis Amri dazu geführt, dass die Behörden wirklich aneinander vorbei gearbeitet haben, sich auch untereinander nicht trauen, sich belauern, sich nicht richtig informieren. Das ist ein systemischer Fehler, der also auch weit mehr ist als vielleicht nur ein Fehler.
Und dann gab es aber auch so etwas wie Ressentiments, Vorurteilsstrukturen bei den Ermittlungen, teilweise eben auch bei manchen Beamten mögliche Kumpanei mit Rechtsextremisten, das ist dann noch mal ein anderer Punkt. Und wir haben dieses teilweise unsägliche V-Mann-Wesen, man könnte auch von einem Unwesen sprechen, also diese geheimen Informanten, die ja Teil in der Regel auch der Neonazi-Szene bleiben, wenn sie den Staat mit Informationen versorgen, und bei denen man nie so genau weiß, wem sie nun wirklich loyal sind, und die dann einfach auch ihr falsches Spiel treiben.
Weyh: Das klingt jetzt so im Gespräch, als würden Sie sofort unterschreiben, schafft das V-Mann-Wesen ab. Aber es gibt da einen nachdenklichen Satz von Ihnen, der lautet: Vieles, was die Richter, die Ermittler und auch deren Kritiker heute über den NSU wissen oder zu wissen glauben, stammt ursprünglich aus Hinweisen von V-Leuten. Das ist sehr zwiespältig.

Undurchsichtige V-Männer

Schultz: Das ist sehr zwiespältig, und ich hab das bewusst auch hineingeschrieben, weil dieser andere Impuls, der liegt so nahe, und der ist mir auch sehr sympathisch, zu sagen, man muss dieses V-Mann-Unwesen, kann man ja sagen, endlich mal beenden. Es hat mehr Schaden angerichtet als Nutzen. Dass wir das so sehen, hat aber auch natürlich damit zu tun, dass es gar keine richtige transparente Evaluation dieses V-Mann-Tums gibt.
Weyh: Kann es ja nicht geben …
Schultz: Kann es ja nicht geben, weil das in der Natur der Sache sozusagen liegt, dass die Behörden da ihre Quellen schützen. Und was wir hier in dem Fall erleben, ist, dass wir V-Männer haben, denen man eigentlich nicht trauen kann, die vielleicht mehr wussten oder sogar richtig kooperiert haben mit den Terroristen und wir da nie ganz sicher sein können. Und andererseits gab es viele ganz interessante Informationen damals schon, die dann aber nicht vernünftig bearbeitet, ausgewertet und genutzt worden sind vonseiten der Behörden. Und das ist eben so ein Punkt, wo ich denke, na ja, man darf es sich auch nicht zu einfach machen im Urteil.
Weyh: Ihr Buch ist, das sagt man ungern zu einem Autor, schwer erträglich.
Schultz: Das kann ich verstehen, aber …

"Die Ermittler wollten das nicht so richtig wahrhaben"

Weyh: Das wird Sie nicht wundern, es ist schwer erträglich, und eigentlich nur erträglich, weil man das Ende kennt und weiß, zum Schluss sind die Täter dann zumindest tot und können nicht weiter morden. Aber dieses Sammelsurium, dieses Konglomerat aus Fehlern, aus Machtspielen, aus institutionellem Versagen, persönlichem Versagen, selten ein Lichtblick – einer der wenigen Lichtblicke, das hat aber auch zu nichts geführt, war der damalige bayerische Innenminister und spätere Ministerpräsident Günther Beckstein. Der hat relativ früh gesagt, schaut auch mal auf die rechte Szene.
Schultz: Der hatte da die richtige Intuition. Das war, nachdem ein Mord in Nürnberg, in der Nähe auch seines Wohnorts geschehen war. Und das war gleich am Anfang der Mordserie, dem Mord an Enver Şimşek, ein Blumenhändler. Und der hat dann gleich mal so an eine Zeitungsseite, wo darüber berichtet worden war, rangekritzelt "Können das auch Rechtsextreme gewesen sein?" Und das hat er dann auch an einem anderen Punkt noch mal sich überlegt, und es ist dann aber nie mit Vehemenz in diese Richtung ermittelt worden, und er hat sich natürlich auch von seinen eigenen Ermittlern dann quasi überzeugen lassen, dass man da keine richtigen Spuren hat. Vielleicht hätte da das Ministerwort noch vehementer in diese Richtung gehen können. Aber das ist Spekulation, dann hätte vielleicht noch mehr passieren können. Aber es gab immer mal so ein paar hellsichtige Momente.
Man muss auch sagen, viele in dem, was man manchmal so türkische Community nennt, oder auch in den Familien der Opfer hatten sehr früh die Idee, das müssten doch eigentlich nur Neonazis sein, wer soll das sonst sein. Man hatte keine ganz konkreten Spuren dahin, aber die Ermittler wollten das auch nicht so richtig wahrhaben.

"Die Schuld verteilt sich auf viele Schultern"

Weyh: Nun kann man ja eines nicht sagen, dass der Staat untätig geblieben ist. Es wurde ja massiv von zahllosen Landeskriminalämtern, Landesverfassungsschutz, Bundesverfassungsschutz ermittelt, mit einem hohen Personalaufwand. Sie schreiben, falsche Spuren wurden exzessiv verfolgt, richtige Spuren ignoriert oder gelöscht. Wenn man diese ganzen Darstellungen, die ja unglaublich aufwendig auch in der Recherche bei Ihnen gewesen sein müssen, liest, hat man das Gefühl, das hängt zu einem großen Teil nicht nur an den Strukturen, sondern auch an den falschen Leuten in falschen Positionen. Etwa der damalige Chef des Landesamts für Verfassungsschutz in Thüringen, eine zwielichtige Gestalt.
Schultz: Ja, das ist tatsächlich eine echte Fehlbesetzung aus meiner Sicht gewesen. Er ist dann auch frühzeitig aus dem Amt geschieden, suspendiert worden. Helmut Roewer, das ist eine skandalumwitterte Figur, ein Mensch, der dann, glaube ich, dem Rechtsextremismus nicht richtig begegnet ist, damals schon, und das war jetzt in der Zeit des Untertauchens des Trios. Und damals hat eben auch dieses Landesamt für Verfassungsschutz nicht vernünftig kooperiert mit dem Landeskriminalamt und den Polizeibehörden. Aber die Schuld verteilt sich letztlich doch auf viele unterschiedliche Schultern und Behörden. Und das Dramatische ist eben, dass wir quasi zwei oder vielleicht sogar drei große Phasen des Versagens von Behörden haben, die eigentlich so unabhängig voneinander laufen.

Mehrere Phasen des Behördenversagens

Die erste Phase ist die des Untertauchens und die Suche nach dem Trio. Und da gab es ganz, ganz viele Pannen, aber auch geradezu skandalöse Vorgänge in den Behörden. Dann gibt es diese zweite Phase, die Ermittlungen in der Mordserie und der Anschlagsserie des NSU, wo man die Verbindung zum Trio gar nicht hergestellt hat. Und auch da ging eben ganz viel schief, und man ermittelte in die falsche Richtung. Dann hat man im Grunde noch mal so eine dritte Versagensphase, das war dann nach Aufdecken des NSU oder nach Enttarnung, als dann so etwas losging wie das Schreddern im Verfassungsschutz.
Weyh: "Ein Buch über den NSU zu schreiben, ist nicht gerade ein Vergnügen." Damit endet quasi Ihr Buch. Warum haben Sie das getan? Sie müssen ja ein Motiv haben, das über den Tag hinausgeht.
Schultz: Ich bin im Grunde die Generation vom Alter her von Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt, und ich bin damit aufgewachsen, wie damals diese Pogrom-artigen Zustände nach der Wende passiert sind. Rostock und Hoyerswerda, Mölln und Solingen und so weiter. Was ich mir nicht vorstellen konnte, war diese NSU-Mordserie. Ich hab da auch nie selbst dran gedacht, als das alles passiert war und man dann in die falsche Richtung ermittelte. Und jetzt haben wir diese Situation, dass wir in Deutschland wieder seit einigen Jahren diese vielen Brandanschläge auf Asylbewerberheime haben, dass wir diese Demonstrationen haben, Chemnitz haben wir angesprochen. Und es erscheint mir sehr wichtig, auch zu schauen, was da auf Behördenseite alles falsch gelaufen ist und festzustellen, wir haben einfach die Situation mit Neonazis seit Jahrzehnten nicht im Griff, und da tut sich eine grausame Kontinuität auf.
Weyh: Vielen Dank, Tanjev Schultz.

Tanjev Schultz: "NSU. Der Terror von rechts und das Versagen des Staates"
Droemer-Verlag, 576 Seiten, 26,99 Euro.

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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