Tankred Stöbe: Mut und Menschlichkeit. Als Arzt weltweit in Grenzsituationen
Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2019
192 Seiten, 14,99 Euro
Als Arzt unterwegs in Krisengebieten
09:40 Minuten
Der Arzt Tankred Stöbe arbeitet seit Jahren für "Ärzte ohne Grenzen" in Krisengebieten, hat darüber jetzt ein Buch geschrieben. Von unserer Wohlstandsmedizin zur existenziellen Hilfe in größter Not: Der Spagat ist für ihn oft nicht leicht auszuhalten.
Dieter Kassel: Tankred Stöbe ist Arzt und arbeitet durchaus auch in Deutschland, wobei inzwischen, muss man sagen, nur zwischendurch. Er ist Internist und leitender Notarzt in einem Berliner Krankenhaus, aber seit 17 Jahren arbeitet er auch für "Ärzte ohne Grenzen". Er war weltweit unterwegs, hat inzwischen 19 Einsätze in 15 Ländern absolviert, und vieles, bei Weitem nicht alles, aber vieles, was er dabei erlebt hat, beschreibt er in seinem Buch "Mut und Menschlichkeit", das heute erscheint.
Ihr erster Einsatz damals für "Ärzte ohne Grenzen", das war 2002, glaube ich, in Myanmar. Bevor Sie losgefahren sind, Sie waren damals junger Arzt in Deutschland, mit der Ausbildung fertig, ich glaube, mit der Promotion noch nicht ganz oder gerade so eben, bevor Sie sich auf den Weg gemacht haben nach Ostasien, was haben Sie erwartet?
Tankred Stöbe: Ja, das war schon ein großer Sprung in eine andere Welt. Ich war hier Intensivmediziner und habe die Akutmedizin ganz gut kennengelernt gehabt, aber war dann auf einmal Dschungelarzt für 10.000 Menschen in völlig unwegsamem Gebiet. Da gab es keinen Strom, kein fließend Wasser, die Menschen waren sehr verunsichert, weil dort Bürgerkrieg herrschte, und hatten überhaupt keine medizinische Versorgung.
Alles, was ich hier eigentlich gelernt hatte an Krankheiten, gab es dort nicht mehr, und alles, was ich dort vorfand an tropischen Erkrankungen, auch an skurrilen Verletzungsmustern, das hatte ich so noch nie gesehen. Das war schon einmal vom Kopf auf die Beine und wieder umgekehrt gestellt, und das hat einige Wochen gebraucht, um mich zu adaptieren und zu wissen: Was kann ich da wirklich leisten?
Im Dschungel von Myanmar
Kassel: Schon dieses erste Beispiel ist interessant. Sie haben zwar jetzt dazu gesagt, es war ein Kriegsgebiet, aber was Sie konkret getan haben mit Kollegen, war, Angehörige einer muslimischen Minderheit in der Nähe der Grenze zu Thailand zu versorgen. Und also zumindest ich – und ich glaube, ich bin nicht der Einzige – habe immer die Vorstellung, jemand für "Ärzte ohne Grenzen" fliegt in ein Kriegsgebiet und im Bombenhagel muss er Menschen versorgen, die schwere Wunden haben. Das kommt in der Tat vor bei dieser Arbeit, aber ist es eher das, was oft auch sehr frustrierend ist, oder eher eine ganz andere Arbeit: Wenn Sie irgendwo sind und Menschen kommen mit in Deutschland leicht zu behandelnden Krankheiten zu Ihnen, Sie können denen aber nicht helfen, weil Sie nicht die Ressourcen haben.
Stöbe: Ganz genau. Und da im Dschungel von Myanmar waren es tatsächlich vor allem Malariakranke, wir haben über 9000 Malariapatienten behandelt in den Monaten, in denen ich dort war, und das ist das Gros unserer Arbeit, es ist Malaria oder Cholera oder Atemwegserkrankungen oder Kinderkrankheiten, große Impfkampagnen.
Es ist tatsächlich oft die Basis-Gesundheitsversorgung, mit der wir in strukturarmen Ländern wirklich viele Menschenleben retten können, und gleichwohl ist es natürlich auch: Wenn ich meine Einsätze angucke, war ich schon mehr auch in Konfliktgebieten, und gerade in den letzten Jahren mit Gaza, mit Libyen, mit Jemen, mit Syrien, Somalia, das sind schon Länder, wo tatsächlich die äußeren Gefahren und dann auch die eigenen Einschränkungen der Fortbewegung und der Arbeitsausdehnung … Das ist schon sehr dominant auch. Das heißt: Wie können wir unter prekären Bedingungen, auch unter starken Sicherheitseinschränkungen die Menschen erreichen, wie erreichen diese Menschen auch uns und die Kliniken? Das sind schon große, große Herausforderungen und offene Fragen, die wir jeden Tag neu versuchen, zu beantworten.
Sexuelle Gewalt im Krieg
Kassel: Aufgrund der Resolution, die gestern nach langer, sehr kontroverser Diskussion im UN-Sicherheitsrat verabschiedet wurde, ist im Moment das Thema sexuelle Gewalt in Kriegen und Konflikten auch als Mittel der Kriegsführung ein sehr großes weltweit. Haben Sie damit Erfahrungen gemacht bei Ihrer Arbeit?
Stöbe: Ja, immer wieder, vor allem jetzt auch in Libyen und auf dem Mittelmeer, Menschen, die aus Libyen rauskommen, natürlich Frauen viel, viel stärker noch als die Männer, die haben überwiegend auch sexuelle Gewalterfahrung erlitten, und da schauen wir auch schon seit langer Zeit besonders hin, weil das noch mal eine andere Art der Fürsorge braucht. Es ist überfällig geworden, insofern freue ich mich über diese Resolution. Aber dass das bis 2019 braucht, bis so was mal die Welt beschließt, das ist natürlich auf der anderen Seite fast schon skandalös, also dass das nicht schon längst Common Sense ist und da eine Einigung da ist. Aber immerhin, jetzt ist sie da.
Kassel: Sie haben in Ländern gearbeitet mit Kulturen, die nicht nur der deutschen oft sehr anders sind, sondern die auch untereinander sehr unterschiedlich sind. Wie schwierig ist es für Sie, sich da zu adaptieren? Also ich meine, wie immer hat auch körperliche Behandlung ja oft auch viel mit der Psyche zu tun.
Stöbe: Das ist aber auch die schöne Herausforderung in jedem Einsatz, mich wirklich auf neue Kontexte, Kulturen, Sprachen einzulassen. Und das Schöne in der humanitären Hilfe, wo es ja wirklich um ganz akute, ernsthafte Kontexte geht, ist, dass dann eigentlich diese Differenzen zwischen den Menschen wegfallen.
Also es ist egal, welche Sprache, welche Kultur, welche Religion ein Mensch glaubt, in einer existenziellen Not sind wir uns sehr nah, wir Menschen. Und das ist eine sehr schöne Erfahrung, die ich eigentlich immer wieder auch mache, dass die großen Differenzen oder vielleicht auch die Tendenzen hier in Europa, dass man sich versucht, abzugrenzen voneinander, das fällt vollkommen weg, und wir sind uns als Menschen in der Not so ähnlich. Und das ist etwas, was vielleicht zu den schönsten Erfahrungen überhaupt gehört, die ich in den Krisengebieten mache.
Entfesselte Gewalt durch den Straßenmob
Kassel: Ich weiß, das ist Ihnen auch sehr wichtig, auch in Ihrem Buch, immer zu sagen, das ist nicht nur eine Geschichte von Katastrophe, Leid und Verzweiflung – aber manchmal eben doch. Und es gibt eine Stelle, es gibt mehrere, aber die Stelle, die mich an Ihrem Buch wirklich am meisten beeindruckt hat, wo ich ehrlich gesagt mal kurz auch nicht weitergeblättert habe, durch den Kopf gehen lassen, kannst auch eine Stunde später weiterlesen, ich bin mir nicht mehr sicher, ich glaube, es war in Sierra Leone, dort waren Sie auch im Einsatz, und da berichten Sie, wie Sie in Ihrer Krankenstation erlebt haben, wie Menschen zu Ihnen kamen, die so schwere Brandverletzungen hatten, dass Sie nichts weiter tun konnten, als denen beim Sterben zuzusehen, bestenfalls mit starken Schmerzmitteln, wenn die überhaupt noch körperlich denen zuzuführen waren. Und das Wichtige ist, das waren keine Unfallopfer, sondern das waren wirklich Opfer, die von anderen Menschen angezündet wurden auf der Straße. Wenn man als Arzt dabei steht, nehmen wir mal den allerschlimmsten Fall, ich glaube, das hat es gegeben, es ist technisch nicht mal mehr möglich, denen mit Schmerzmitteln zu helfen, wie kann man so was eigentlich verarbeiten als Arzt?
Stöbe: Das ist tatsächlich schwierig. Also da ging es darum, das war am Ende des Bürgerkriegs in Westafrika, junge Männer waren es meistens, die dann verdächtigt wurden, etwas vielleicht geklaut zu haben, vielleicht auch nicht, und die wurden dann durch die Straßen getrieben, der Straßenmob, Menschen, die sie zusammengeprügelt haben, dann mit Benzin übergossen, angezündet, und so kamen sie dann zu uns. Das waren eigentlich fast immer sterbende Menschen.
Und das ist, wie Sie gerade sagen, also diese Brutalität, die Menschen anderen Menschen antun können, das ist auch nicht fassbar, und da geht es für mich als Arzt dann auch nur darum, das im Moment auszublenden, zu tun, was ich da noch tun kann, das heißt, Schmerzmittel geben, versuchen, das Sterben würdevoll zu gestalten. Das zeigt natürlich auch, das ist sozusagen die Endform, das ist ein Land gewesen, was vollkommen jegliche Sicherheit verloren hat, und wenn alles wegfällt, was wir an Zivilisationserrungenschaften haben und sozusagen die blanke Gewalt herrscht, dann werden Menschen tatsächlich auch zu Wesen, die wir uns lieber nicht so klar vorstellen. Das wird schon richtig grausam.
Als Notarzt in Deutschland zu Bagatelle-Fällen
Kassel: Sie beschreiben in Ihrem Buch auch, wie Sie manchmal, wenn Sie zwischendurch wieder in Deutschland gearbeitet haben im Krankenhaus – das ist mein Eindruck bei dem, was Sie da sagen –, so ein bisschen an der Sinnhaftigkeit Ihrer Tätigkeit hier gezweifelt haben. Also Sie sagen das relativ deutlich, deshalb kann ich das auch so formulieren, dass Sie, wenn Sie Menschen mit allen Möglichkeiten der Pharmazeutik und der Apparatemedizin geholfen haben, die im Alter von 85, 90 unter Zivilisationskrankheiten litten, die eher auf ihr gutes Leben zurückzuführen sind, dass Sie sich gefragt haben, ich glaube, ich kann das sagen, was tue ich eigentlich hier? Ist das inzwischen so, dass Sie sagen, mein Platz ist eher bei "Ärzte ohne Grenzen" als zu Hause?
Stöbe: Also ich sehe schon weiterhin die Herausforderung, in diesen beiden Welten – es sind ja ganz viele, aber wenn ich sage, der humanitären Welt und der modernen Medizin hier in Berlin – irgendwo zu Hause zu sein, aber natürlich habe ich hier andere Fragen, auch an unsere Gesellschaft.
Ich wünsche mir, dass wir gerade diese Frage, was Sie ansprechen, wie wollen wir sterben, wie wollen wir die letzten Tage, Wochen, Monate unseres Lebens verbringen? Ich glaube, da bräuchten wir noch viel bessere Verabredungen in den Familien, dass es da nicht dazu kommt, dass die Menschen dann auf eine Intensivstation kommen und dann eine technische Lebensverlängerung passiert um jeden Preis. Oder natürlich frage ich mich auch morgens um vier, wenn ich aufstehe als Notarzt und irgendwo hinfahre mit Tatütata durch die Stadt und dann ist es wirklich eine Bagatelle … also das kommt schon immer vor.
Auf der anderen Seite muss ich das auch klar separieren. Wenn ich das vergleiche jedes Mal, dann wird es, glaube ich, wirklich schwierig. Auf der anderen Seite finde ich es wichtig, dass wir uns hier aus diesem Wohlstand, den wir ja auch haben, tatsächlich immer den Blick auch weiten und über unseren engen Tellerrand hinausgucken und sehen, was passiert an Not?
Wir sehen es ja gerade, oder beziehungsweise nicht erst gerade, seit drei, vier Jahren mit Menschen, die versuchen, aus Not und Verzweiflung zu kommen und die wir – und so drastisch ist es eben auch – vor den Küsten Europas ertrinken lassen. Und das ist eine Sache, die mich schon auch sehr umtreibt und wo ich so viele Geschichten auch, so viele Menschenschicksale erlebt habe, und da wünsche ich mir auch eine andere Solidarität, die wir diesen Menschen entgegenbringen können.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.