Es gab mal einen 'Zitty'-Artikel 'Tanzen in Berlin' - und den habe ich mir rausgerissen und fand das so spannend über Balkantanzen. Und irgendwann nach einem dreiviertel Jahr bin ich allein hierher, ganz mutig. Dann war ich einen Monat in der Freitagsgruppe, bis einer zu mir sagte: ‚Geh doch mal donnerstags! Das ist viel lockerer und für Anfänger perfekt.‘
Zwei Füße im 7/8-Takt
Mehrere Balkantanzgruppen treffen sich im Statthaus in Berlin-Kreuzberg. © Fritz Schütte
Tanz den Balkan
22:43 Minuten
Die Geschichte der Balkantanzgruppen ist ungewöhnlich. Als der deutsche Volkstanz nach dem Krieg verpönt war, suchten Tanzbegeisterte nach Alternativen. Heute tanzen in Berlin-Kreuzberg Menschen unterschiedlicher Herkunft zusammen.
Donnerstagabend im Statthaus Böcklerpark in Berlin-Kreuzberg: Hans Kesch erklärt geduldig die Schritte.
Das macht er seit 45 Jahren. Musik aus Mazedonien erklingt. Anfänger schauen gebannt auf die Füße der Nebenleute.
„So, jetzt Nemoj Kate, ein Tanz aus Kroatien. Ich zeige es mal ganz kurz, damit ihr nicht lange rätseln müsst.“
Tänzerinnen und Tänzer kennen sich untereinander - manche seit Jahrzehnten. Obwohl längst keine Anfänger mehr, sind sie Hans treu geblieben. Ambitioniertere Tänzer treffen sich freitags.
Türkisch ist zu hören, Kurdisch. Es mag sein, dass die eine oder der andere tatsächlich vom Balkan stammt.
Wie der Balkantanz nach Berlin gekommen ist
Wie aber mögen all diese Tänze nach Berlin gekommen sein?
Das könnten Eveline Krause und Ulf Weigel viel besser erzählen, sagt Hans. Die beiden sind noch länger dabei als er. Krause und Weigel wohnen in Zehlendorf, im äußersten Westen Berlins, und hatten, als sie Anfang der 70er-Jahre auf International Folk Dance stießen, schon einiges hinter sich.
„Wir hatten Erfahrungen in einer deutschen Volkstanzgruppe. Aber deutschen Volkstanz zu tanzen, hat einen sofort in die Ecke der Vertriebenen gebracht - Rückgewinnung der Ostgebiete. Und da gehörte man nicht dazu. Und deswegen ist man halt zu diesem internationalen Volkstanz gegangen.“
Mazedonische Tänze gelten als die schwierigsten
Um Musik und Tanz in authentischer Atmosphäre zu erleben, besuchten Eveline und Ulf den Verein jugoslawischer Mitbürger und erkundeten, als der Tanztourismus noch in den Kinderschuhen steckte, den Balkan.
Ulf Weigel: „Ich bin 1975 zu einem Tanzseminar gefahren. Damals hatten die mazedonischen Tänze schon den Ruf, das sind die schwierigsten, aber die schönsten, und das lernst du nie."
Eveline Krause: "Ich bin dann im nächsten Jahr mitgefahren und mit unseren Sprachkenntnissen, die wirklich sehr mäßig waren, haben wir in so einem Laden nach Folkloremusik gefragt."
Eveline Krause: "Ich bin dann im nächsten Jahr mitgefahren und mit unseren Sprachkenntnissen, die wirklich sehr mäßig waren, haben wir in so einem Laden nach Folkloremusik gefragt."
Eine Arbeitsgemeinschaft für Tanz in der Schule
Ulf und Eveline sind aktiv in der Landesarbeitsgemeinschaft Tanz, die unter anderem Tanz in der Schule fördert.
Birgit Rößner leitet die Tanz AG an der Wetzlar-Schule in Berlin-Neukölln: "Wir haben dieses Jahr ‚50 Jahre Tanz in der Schule‘-Jubiläum. Also vor 50 Jahren war das so, dass es hier Lehrer gab, vielleicht fünf oder sechs, die tanzten mit den Kindern diese Tänze, die wir hier auch machen: Das nennt man internationale Folkloretänze - und diese Lehrer haben sich damals gesagt: ‚Lasst uns doch mal treffen mit euren Gruppen aus der Schule.‘"
"Fürs Tanzen ist es nie zu spät"
Einige Schülerinnen tanzen schon seit der dritten Klasse bei Frau Rößner.
Schön, es als Kind zu lernen! Hans Keschs Kindheit jedoch fiel in die Nachkriegszeit. "Fürs Tanzen ist es nie zu spät", sagte er sich, als er die Gruppe gründete, aus der später die Donnerstagsgruppe hervorgehen sollte.
„Das war 1977, da war ich 36, also relativ alt für einen Tanzanfänger, aber habe mich noch sehr jung gefühlt.“
Sein erster Tanzlehrer hatte sich noch an den Gebrauchsanweisungen orientiert, die Schallplatten beilagen.
Balkantanz auch im Uni-Sport
Oliver Goers kam nach der Wende aus Greifswald zum Studium nach Berlin, lernte Balkantanz im Uni-Sport kennen und landete bei Hans Kesch im Statthaus Böcklerpark. Er betrieb das Tanzen intensiv und trat sogar mit einem Ensemble auf. Alles schien perfekt, nur die Musik aus der Konserve wirkte plötzlich leblos.
„Ich hatte Glück, weil ich Leute getroffen habe, die Musiker sind und sich auskannten. Dann haben wir irgendwann eine Band gegründet.“
Ljuti Hora - bulgarisch für "scharfe Tänze" - lädt einmal im Monat zum "Balkantanzhaus" in eine Berliner Bar ein.
Şen Akyol gehört zu den Tänzern, an denen sich Anfänger orientieren können.
„Ich komme aus dem türkischen Teil Kurdistans. Ich habe, als ich nach Deutschland kam, Anfang der 80er-Jahre Tanzunterricht an den Volkshochschulen Tiergarten und Kreuzberg gegeben. Und irgendwann habe ich, nachdem ich eine Familie gegründet habe, ein bisschen Pause gemacht und dann vor 20 Jahren hier angefangen.“
In Berlin gibt es auch eine kurdische Tanzgruppe
Şen geht bis zu vier Mal die Woche tanzen. Besonders am Herzen liegt ihm GovendaKÎ, die kurdische Tanzgruppe, die sich samstagabends in einer Kreuzberger Turnhalle trifft.
"Wir lernen traditionelle Tänze aus allen Regionen Kurdistans, aber auch anderer unterdrückter und bedrohter Völker", heißt es auf der Webseite der Tanzgruppe. GovendaKÎ ist engagiert, gehört aber keiner politischen Partei an, betont Mitbegründer Veysi Özgür.
Jeder Mensch, der zu uns kommt, sieht, dass wir nur tanzen. Das reicht schon. Unser Kampf war immer ein Identitätskampf. Tanz ist auch ein gutes Mittel. Durch Kultur Widerstand zu leisten, ist eine große Sache.
In der Türkei, in Syrien, dem Irak oder Iran wird oder wurde ihre Kultur unterdrückt. In der Türkei war die kurdische Sprache sogar verboten.
Tanz als Identifikationsmittel
„Es ist uns nicht erlaubt worden, einfach wie Kurden zu leben. Ich kann mir gut vorstellen, wenn wir wie Kurden leben dürften, wäre es nicht so etwas Wichtiges. Aber was man nicht darf, ist immer interessant. Tanz ist ein Identifikationsmittel, wahrscheinlich das letzte, weil unsere Sprache ist in der Türkei auch weggenommen worden. Kaum Kinder können kurdisch sprechen, aber durch Tanzen stellen sie dar, was sie sind, was sie ausmacht, was anders ist.“
Für westliche Ohren klingt orientalische Musik fremd. Umgekehrt ist es genauso.
„Als Kind konnte ich Mozart nicht hören. Wenn es im Radio gespielt wurde, war es für meine Ohren so zerstörerisch. Ich konnte es nicht. Aber jetzt kann ich es. Musik und Rhythmus sind nicht Sachen, wie man ein Buch liest und dann hat man es verstanden. Das muss aufgebaut werden.“
Geduld mit sich und den anderen
Hans Kesch schafft eine Atmosphäre, in der Geduld geübt wird - mit sich und anderen.
„So eine Gruppe lernt ja, und wenn Könner auf Menschen treffen, die das auch können möchten und gemeinsam Spaß haben wollen, ist das ziemlich schwer unter einen Hut zu bringen.“
Natürlich könnte man üben, und die eine oder der andere hat das sicher auch schon getan.
„Heute hat man es ja einfach. Am Handy sucht man ein Video irgendeiner Tanzgruppe und kann das im Prinzip nachmachen. Ich genieße es, dass ich etwas tun darf, wo ich mich überhaupt nicht anstrengen muss, wo ich immer abgucken kann. Ich habe mich dazu entschlossen, das ist hier meine Freizeit, und genieße es, nichts zu müssen.“
Eine Wiederholung vom 2. April 2023