Gelungenes Ost-West-Kultur-Joint-Venture
In der Zeit des Mauerfalls 1989 trafen sich ein paar Musikbegeisterte aus Ost und West, um ein deutsch-deutsches Musikprojekt zu gründen: Inzwischen ist das thüringische Tanz- & Folkfest Rudolstadt das größte deutsche Festival für Folk-und Weltmusik.
Bernhard Hanneken: "Ich hatte den Namen Rudolstadt noch nie gehört und hatte keinen blassen Schimmer, wo dieses Nest überhaupt liegt. Musste mir dann auch erst mal die ganze Geschichte von den Tanzfestivals und auch dem, was dann die Folk-Kollegen in den 80er-Jahren dort gemacht haben, erzählen lassen. Und wir sind ja dann im Dezember dorthin gefahren. Das hatte ja einen ganz großen Zufallsfaktor. Also, wäre ich nicht in Bad Hersfeld gewesen, hätte ich nichts mit diesem Festival je in meinem Leben zu tun gehabt."
Im Herbst 1990 war Bernhard Hanneken, heute Programmdirektor des Tanz- und Folkfestivals (TFF) Rudolstadt, zu einer Veranstaltung des Folk- und Weltmusik- Verbandes Profolk nach Bad Hersfeld gereist, um sich dort mit einigen Freunden aus der DDR zu treffen, die er in den letzten Jahren öfter besucht hatte. Dass er am Ende dieser Veranstaltung Mitgründer eines der erfolgreichsten europäischen Folk- und Weltmusik-Festivals sein würde, damit hatte er nicht gerechnet. Für Hanneken war es ein wenig wie der Hase, der aus dem Hut gezaubert wird, als damals der Vorschlag des Leipzigers Ulrich Doberenz - dem heutigen Direktor der Festivals - kam, nicht nur darüber zu diskutieren, ob man neben dem Verband Profolk auch noch einen ähnlichen Verband im Osten gründen solle, sondern lieber ein gemeinsames Deutsch-Deutsches Projekt zu initiieren.
Ulrich Doberenz: "Ich hatte ja das Angebot, das Festival zu machen, und damals so eine kleines Konzept geschrieben. Und ich könnte mir vorstellen - ein gesamtdeutsches Folk- und Weltmusik Festival. Und gesamtdeutsch - das sollte auch dadurch sein, dass die Organisatoren, die das Festival organisieren, auch gesamtdeutsch sein sollten."
Schon 1955 als deutsch-deutsches Festival gegründet
Sowohl die Vertreter des DDR-Folk als auch die angereisten Teilnehmer aus Westdeutschland hatten damals schon einige Erfahrungen und ein relativ reichhaltiges Wissen über die jeweils andere Szene gesammelt. Der eine oder andere hatte auch schon mal davon gehört, dass es seit den 1950er-Jahren, die Tanz-Feste im Thüringischen Rudolstadt gab, wo sich Trachtengruppen aus dem ganzen Ostblock trafen und wo auch die DDR-Folk-Szene einen Platz gefunden hatte.
Tatsächlich war diese Veranstaltung 1955 noch als deutsch-deutsches Festival gegründet worden. Das änderte sich aber sehr bald. Auch an diese ursprüngliche Ausrichtung sollte das Tanz- & Folkfest Rudolstadt anknüpfen. Aber es gab auch durchaus Unterschiede bei dem, was die einzelnen Beteiligten aus Ost und West bei der Gründung des Tanz- & Folkfest Rudolstadt sonst noch beisteuern konnten.
Doberenz: "Ich habe sehr viel Erfahrung für größere Veranstaltungen mitgebracht und die anderen brachten dann die musikalische Erfahrung mehr mit, denn mit der Weltmusik hatten wir in der DDR wenig am Hut. Es gab eine Folkszene. Wir kannten uns eher in der Folkszene aus, aber in der Weltmusikszene eher weniger."
Der Begriff der Weltmusik begann sich zu jener Zeit auch in Westdeutschland erst gerade wirklich zu etablieren durch Veranstaltungen wie etwa dem von Peter Gabriel initiierten WOMAD Festival in England. Was die Macher des Tanz- & Folkfest Rudolstadt wollten, war ein großer, zentraler Treffpunkt für eine gesamtdeutsche Szene. So stand denn auch auf dem Plakat des ersten Festivals zu lesen "Das Folkfestival im Herzen Deutschlands".
Ost-West-Unterschiede haben sich abgeschliffen
Man wollte ein Festival schaffen, das zu einem Anziehungspunkt für beide Szenen werden sollte und das in seiner Größe und Ausstrahlung vergleichbaren Veranstaltungen im europäischen Ausland in nichts nachstand. Doch neben diesen gemeinsamen Zielen gab es von der Mentalität und der Herangehensweise bei den Protagonisten aus Ost und West durchaus auch Unterschiede.
Hanneken: "Der Westler ist ja als solcher wesentlich individualistischer geprägt. Die DDR-Gesellschaft war ja - teilweise auch aus der Not geboren - eine, die nicht immer ganz freiwillig, aber trotzdem sehr stark auf Solidarität und Mitmachen und so weiter setzen musste. Du musstest jemanden kennen, der jemanden kennt, der jemanden kennt, der demnächst nach Ungarn fährt um ein Ersatzteil für einen Trabbi mitzubringen. Und das hat natürlich auch abgefärbt. Und das sind auch beispielsweise Unterschiede, die teils bis heute immer noch bestehen. Dass da immer noch so eine Prägung da ist."
Die Unterschiede Ost und West haben sich mit den Jahren abgeschliffen und auch nach knapp 25 Jahren Festivalgeschichte ist ein Großteil der Beteiligten der ersten Stunde immer noch dabei. Mit seinen jährlich rund 80.000 Besuchern ist das Tanz- & Folkfest Rudolstadt - oder TFF Rudolstadt, wie es heute heißt - eine der größten Veranstaltungen in diesem Bereich in ganz Europa. Aber kann man das Festival auch als ein erfolgreiches und gelungenes Ost-West-Kultur-Joint-Venture bezeichnen?
Hanneken: "Erfolgreich ist es auf jeden Fall. Wichtiger Kulturbeitrag, glaube ich, ist es auch nicht nur für Rudolstadt und Thüringen sondern durchaus darüber hinaus. Und es ist auch immer noch jenseits aller Debatten und manchmal natürlich auch produktiver Streitereien, die man hat, eine konstruktive Ost-West-Zusammenarbeit. Also von daher glaube ich schon, dass man das so bezeichnen kann."