Tanzend auf Entdeckungsreise durch Los Angeles

Von Kerstin Zilm · 07.04.2013
Los Angeles ist eine Autostadt. Viele ihrer Bewohner haben noch nie die U-Bahn benutzt. Die Konferenz re:street will für ganz neue Perspektiven sorgen - mit einer Tanzchoreografie auf der Red Line. Auf der gesamten Linie wird getanzt, und das für mehrere Stunden.
Neun Uhr morgens in Union Station - dem Hauptbahnhof von Los Angeles, mitten in der Stadt. An diesem Morgen unterbrechen acht junge Tänzer in bonbonfarbenen Hosen und Hemden den Fluss der Pendler im Berufsverkehr. Sie stehen vor dem U-Bahneingang, schauen in Richtung Tunnel zu den Fernverbindungen. Einer der Tänzer zählt an. Dann beginnt die Choreografie.

Ohne Musik. Mit weit schwingenden Bewegungen laufen die Tänzer aufeinander zu, voneinander weg, schwanken, stoppen, drehen sich umeinander, laufen im Kreis und formieren sich ständig neu. Nach wenigen Minuten laufen sie in lockerer Reihe auf die Drehkreuze der U-Bahn zu und verschwinden im Untergrund. Choreograf und Regisseur Stephan Koplowitz erklärt das Konzept von ‚Red Line Time’:

"Unser Ziel ist es, an allen 14 Haltestellen der roten Linie zu tanzen und dabei dem Fluss der U-Bahn zu folgen. Wir steigen aus, tanzen und steigen in den nächsten Zug wieder ein. Das Publikum ist Teil der Aufführung. Es bewegt sich mit uns."

Zur ersten Aufführung sind etwa 25 Zuschauer gekommen. Sie folgen den Tänzern in den Untergrund und die U-Bahn. Neugierig beäugen Passagiere die Darsteller. Sie spekulieren, was hinter der bunten Kleidung steckt und fragen ob das ein Flashmob ist. Die Tänzer bleiben stumm.

An der nächsten Haltestelle verlassen sie den Zug, stellen sich hintereinander auf die Rolltreppe, laufen zu einer mit geometrischen Formen bemalten Fliesenwand und tanzen. Stephan Koplowitz:

"Technisch ist es jedes Mal dieselbe Choreografie, aber sie ändert sich an jedem Ort wegen der äußeren Gegebenheiten. Manchmal kann das Publikum die Vorführung aus mehreren Blickwinkel sehen, manchmal von einer Rolltreppe, manchmal können sie rundherum gehen, meine Darsteller improvisieren und jedes Mal ist der Hintergrund anders. Durch all diese Faktoren sind es schließlich 14 verschiedene Aufführungen."

Eine davon findet neben einer Baustelle in Downtown statt. Die Darsteller tanzen über Betontreppen, um Marmorsäulen und auf Messinggeländern. Pendler und Passanten bleiben stehen. Bonnie Hulkower ist froh über die unerwartete Abwechslung in ihrer Arbeitspause.

"Viele nehmen die U-Bahn gar nicht wahr. Es ist toll, die Aufmerksamkeit darauf zu lenken und gleichzeitig die Menschen hier mit einzubeziehen. Ich bin auf dem Weg zur Bank und froh, dass ich das hier zufällig sehen kann."

Auf und ab geht es durch den Untergrund in Richtung Hollywood. Tänzer und Publikum geraten außer Atem. An einer Haltestelle landet die Truppe mitten in einem Bauernmarkt. Karin und Constance kaufen Erdbeeren, während die Tänzer ihre Choreografie auf die Enge zwischen Obst- und Gemüseständen einstellen.

"Es ist großartig. Ich wollte schon lange Mal mit der roten Linie fahren. Die ist nicht gerade in meiner Nähe und es ist immer aufregend, etwas Neues zu tun."

"Ich benutze zum ersten Mal die U-Bahn. Es ist wunderbar! Mir gefällt vor allem das Wechselspiel zwischen Tänzern und Passanten, wie sie aufeinander reagieren. Das gehört alles dazu."

Die Choreografie verändert den Blick auf öffentliche Verkehrsmittel in der Autostadt Los Angeles. Red Line Time ist Teil einer Konferenz zum Thema Straße und moderne Stadt. An der sind neben der California State University das Goethe Institut Los Angeles und die Bauhaus Universität Weimar beteiligt.

Professor Wolfgang Christ aus Weimar erklärt: Los Angeles war zunächst im Städtebau Vorbild mit seinem damals sehr gut ausgebauten Netz aus Straßenbahnen. Später orientierten sich europäische Metropolen an dem Konzept der Ampel- und Kreuzungsfreien Autostadt. Inzwischen kann Los Angeles von Europa lernen. Das verkümmerte öffentliche Verkehrsnetz und überfüllte Freeways haben spürbar negative Folgen für die Entwicklung von Kultur und Gesellschaft.

Christ: "Man ist nicht mehr mobil in der Stadt und im Grunde genommen entwickelt sich die Metropolregion als ein Puzzlestück aus Dörfern. Es gibt Dorfidentitäten. Man kommt nicht mehr aus seinem Kaff raus."

Fareed Majari, der Leiter des Goethe Instituts von Los Angeles hat mit Choreograf Koplowitz das Konzept für Red Line Time entwickelt. Das Projekt kann aus seiner Sicht neue Perspektiven in der Städteplanung provozieren.

"Künste können spekulieren, können mit Gefühlen und Erfahrungen der Menschen arbeiten und daraus kühne Projektionen entwickeln, die einen Wert für konkrete Planung haben können. Ich glaube da können die Künste wegweisend sein und eine Konferenz ergänzend bereichern."

Choreograf Stephan Koplowitz hofft, dass möglichst viele mit den Tänzern auf U-Bahn-Entdeckungsreise durch Los Angeles gehen - auch wenn die Aufführung bis zur letzten Haltestelle gut drei Stunden dauert.

"Man muss uns zumindest vier oder fünf Haltestellen folgen, um die Arbeit einschätzen zu können. Ich bin begeistert, wenn manche bis zum Ende durchhalten. Das ist etwas viel verlangt. Aber es ist ein Abenteuer!"