Wann ist ein Umarmen noch ein Umarmen, und wann ist es der Schwitzkasten? Es ging mir darum, dass die Zuschauer selbst nachprüfen: Was sehe ich eigentlich darin? Wann ist für mich da ein Übergriff?
Tanzstück "Schattenkind"
Urvertrauen: Wenn in die Beziehung von Mutter und Kind Gewalt einbricht, schmerzt das ganz besonders. © Daniela Wolf
Wenn Mutterliebe in Gewalt umschlägt
08:53 Minuten
Fast 45 Prozent der Kindesmisshandlungen werden von Frauen begangen. Die Choreografin Eva Baumann hat recherchiert, weshalb Mütter gewalttätig werden und erzählt auf der Bühne davon. Ohne Worte, im Tanz mit einer Puppe.
Geborgenheit, Verständnis, die ersten liebevollen Berührungen, die wir im Leben empfangen - all das macht Mutterliebe zu einem existenziellen Kraftquell. Umso erschreckender ist es, wenn Mütter ihren Kindern Gewalt antun. Kein Wunder, dass dieses Problem besonders selten zur Sprache kommt. Dabei ist es weiter verbreitet, als viele glauben.
Intensive Recherche
Laut polizeilicher Kriminalstatistik des Jahres 2020 wurden von den ermittelten Fällen von Kindesmisshandlung fast 45 Prozent von Frauen begangen. Dabei handele es sich um Straftaten, bei denen körperliche Gewalt ausgeübt wurde, erklärt die Tänzerin und Choreografin Eva Baumann. Im Programmheft zu ihrer Produktion "Schattenkind" am Theaterhaus Stuttgart zitiert sie die Statistik.
Baumann hat intensiv zum Thema recherchiert. Die öffentliche Diskussion verenge sich allzu schnell auf Eltern, die selbst psychische Probleme hätten, etwa mit Alkohol- und Drogenmissbrauch, sagt Baumann. Gewalt gegen Kindern komme jedoch in allen Schichten und Kulturkreisen vor, in "sogenannten gut situierten Familien" werde sie oft bloß besser versteckt.
Subtile Grenzverläufe
Es komme immer wieder vor, dass sie ganz laut und impulsiv werde, berichtet eine von vier Müttern, die Eva Baumann für ihr Stück interviewt hat. "Dann werden die Kinder ganz zahm – ich glaube, weil sie Angst vor mir bekommen –, und es ekelt mich sofort an. Ich möchte so nicht sein.“ Von solchen Erfahrungen und Selbstbefragungen zu hören, sei sehr wichtig gewesen, um ihre Choreografie zu entwickeln, sagt Baumann: "Ich wollte kein Täterinnen-Opfer-Stück machen, das Mütter anprangert." Es sei ihr eher darum gegangen, möglichen Ursachen auf die Spur zu kommen und den subtilen Grenzverläufen, wo Handlungen in Gewalt umschlagen.
Das Spiel mit der Puppe ziehe das Publikum stark in die Szenen hinein, sagt Baumann. Es erzeuge "den Reflex, dass man sich in die Puppe hineinversetzt. Das ist ein anderes Zuschauen, als wenn zwei Menschen auf der Bühne wären."
Appell zum Hinschauen und Handeln
Im besten Fall rege ihr Stück vielleicht dazu an, etwas mehr darauf zu achten, wie wir mit dem Kind in uns selbst umgingen, sagt Baumann, "weil mir das ein Rüstzeug gibt, wie ich wiederum auf andere Menschen oder auch auf meine eigenen Kinder zugehe."
Außerdem möchte sie dazu ermutigen hinzuschauen, falls Kinder in der Nachbarschaft oder im Bekanntenkreis in Bedrängnis geraten. Es gebe immer eine Möglichkeit zu handeln: "Hilfe anzubieten oder einfach nachzufragen und im Notfall sich auch nicht zu scheuen, die Polizei anzurufen, wenn wirklich klar ist: Da wird jetzt ein Kind verprügelt."
(fka)
"Schattenkind" von und mit Eva Baumann: ist am 20., 21. und 22.1.2022 im Theaterhaus Stuttgart zu sehen.
Der Deutsche Kinderschutzbund bietet Hilfe bei Gewalt gegen Kinder unter der Nummer gegen Kummer: 116 111 (für Kinder) und am Elterntelefon: 0800 111 0 550 (für Mütter und Väter).