Essen als Horrorvision
Tänzer stopfen sich Esspapier in den Mund, bis die Körper überfressen am Boden zucken. Die diesjährige Ruhrtriennale endet mit dieser Aufführung. Heiner Goebbels gibt nach drei Jahren turnusgemäß die Leitung ab. Die Bilanz einer Wundertüte.
Tänzer essen nicht bei der Arbeit. Kauen, Schlucken und Verdauen scheint während einer normalen Tanztheateraufführung kaum möglich. Doch in der Performance "manger" von Boris Charmatz mampft das Ensemble ohne Unterlass Esspapier. Es ist die letzte Premiere der Ruhrtriennale unter Leitung von Heiner Goebbels.
Am Anfang knabbern die 14 Tänzer des Musée de la danse/Centre choréographique national de Rennes noch zaghaft an den leeren Seiten. Dann stopfen sie sich das oblatenähnliche Zeug immer ekstatischer in die Münder, bis die Körper überfressen am Boden zucken. Einige lecken sich über die Arme, deuten an, ihre Füße oder Beine aufzuessen. Die Lust am Essen kippt in eine Horrorvision.
Manchmal klumpen Körper zusammen, werden zu einem Leib und lösen sich wieder. Während andere isoliert bleiben. Die Bedeutung des Essens als identitätsstiftendes Ritual lässt nach, schreiben Soziologen. Solche Entwicklungen reflektiert Boris Charmatz, ohne dass seine Bilder eindeutig deutbar wären.
Singen mit vollem Mund
Ein französisches Gedicht über einen Menschen, der nur aus Exkrementen besteht, wirkt nah am Thema. Ein Song über "King Kong" ist mehr Assoziationsspielraum. Fast während der gesamten Aufführung singen die Tänzer, die Musik gibt dem Abend die Struktur.
Von einem Renaissance-Choral gleiten die Gesänge über einen Ausschnitt aus Beethovens siebter Sinfonie zu Rocksongs und György Ligeti. Zum Teil singen die Tänzer mit vollem Mund, was nicht nur klanglich, sondern auch optisch irritierende Wirkung hat.
Im Ensemble gibt es ältere Tänzer und eine dicke Frau, die an Energie den athletischen Hungerkörpern nicht nachsteht, im Gegenteil. "Manger" hat verspielte, selbstironische Momente aber auch Phasen der Verzweiflung und Erschöpfung, ein spannungsgeladener, offener, überraschender Tanztheaterabend.
Boris Charmatz war ein Dauergast bei der Ruhrtriennale in den drei Jahren unter Leitung von Heiner Goebbels. Ebenso wie Romeo Castellucci oder Lemi Ponifasio. Goebbels hat ein radikal ungewöhnliches Programm präsentiert, fast nur Aufführungen, die an Stadttheatern nicht möglich wären.
Denk- und Fühlanstöße
Natürlich sind nicht alle Kreationen gelungen, aber doch viele, und fast alle gaben Denk- und Fühlanstöße. Vor allem erreichten sie ein großes Publikum. Die Popularisierung der Avantgarde ist die eigentliche Leistung von Heiner Goebbels. Er hat es geschafft, eine Atmosphäre der unvoreingenommenen Neugierde zu schaffen. Indem er das Erlebnis in den Vordergrund stellte und nicht die Hermeneutik.
In seiner Komposition "Surrogate Cities" – der vorletzten Premiere der Ruhrtriennale – wurde diese Kunstphilosophie deutlich. Goebbels nutzt ohne Scheu alle musikalischen Möglichkeiten, die ihm sinnvoll erscheinen, was die Bochumer Symphoniker unter Steven Sloane perfekt umsetzen. Wer will, kann die Texte von Paul Auster oder Heiner Müller zur Stadt der Zukunft verfolgen.
Doch die Aufführung hat auch eine direkte, unterhaltende Ebene. Mathilde Monnier hat eine "Choreographie für das Ruhrgebiet" geschaffen, mit 130 Leuten aus der Region, Kindern, Kampfsportlern, älteren Turniertanzpaaren und vielen anderen. Jeder macht mit, zeigt, was er kann, hat Freude, keiner muss sich beweisen. Das ist die Entspanntheit und Menschenfreundlichkeit, mit der Heiner Goebbels die Ruhrtriennale geprägt hat und von der viele Kulturinstitutionen lernen können.
Kleine Ermüdungserscheinungen
Im Kern geht es um Kommunikation, gemeinsame Erlebnisse, um die Begegnung von Menschen auf Augenhöhe. Das haben die Zuschauer gespürt und sich deshalb auch Vorstellungen angeschaut, die vielleicht nicht immer nach ihrem Geschmack waren. Die Ruhrtriennale war bis zum Schluss eine große Wundertüte. Allerdings im dritten Jahr mit kleinen Ermüdungserscheinungen. Es ist schon sinnvoll, dass alle drei Jahre der Intendant wechselt.
Johan Simons übernimmt und wird das Festival völlig anders prägen als Heiner Goebbels. Das ist auch richtig so. Aber die humorvollen Spinnereien, das opulente Experimentieren, der große Freiraum, den die Künste und Künstler bei Heiner Goebbels hatten, wird im Gedächtnis bleiben. Bei ihm hat die Ruhrtriennale ein unverwechselbares Gesicht entwickelt.