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Erscheinung aus den Wäldern
Bevor Jean Sibelius in den letzten drei Jahrzehnten seines Lebens verstummte, widmete er sich Märchen und Mythen: Die Schauspielmusik "Der Sturm" und die Tondichtung "Tapiola" sind späte Höhepunkte eines Schaffens zwischen Romantik und Moderne.
Der finnische Komponist Jean Sibelius (1865-1957) hatte mit seiner Siebten Sinfonie 1924 einen großen Erfolg errungen, als ihn ein Auftrag aus Kopenhagen erreichte: Für eine Aufführung von Shakespeares "Sturm" am Königlichen Theater möge er eine Schauspielmusik schreiben. Sibelius sagte begeistert zu und verwandelte diese Gelegenheitsarbeit in eines seiner späten Hauptwerke.
Für "The Tempest" – in der dänischen Fassung des Theaters in Kopenhagen "Stormen", in der finnischen Fassung des Theaters in Helsinki "Myrsky" – entstanden 36 kleine Sätze, Arien, Chöre und Zwischenspiele. Sie sind der fernen Insel gewidmet, auf der dieses Märchenspiel mit seinen Magiern, Luftgeistern und Göttinnen spielt.
Von der Bühne in den Konzertsaal
Rund eine Stunde kaum bekannter Sibelius-Musik enthält dieses aparte Werk (op. 109), dessen prägnanteste Ideen Sibelius anschließend in zwei Konzertsuiten überführte. Aber in ihrer hochverdichteten, dramaturgisch bisweilen verqueren Art werden auch diese Suiten nur selten gespielt, obwohl sich Dirigenten wie Thomas Beecham, Eugen Jochum, Neeme Järvi und Neville Marriner ihrer im Studio angenommen haben.
Die gesamte Schauspielmusik wurde von Osmo Vänskä (in der finnischen Fassung) und Jukka-Pekka Saraste (in der dänischen Version) aufgenommen.
Die Welt als Illusionstheater
Mit der "Sturm"-Musik gelang Sibelius ein Werk der Rückschau – passend zum späten Theaterstück Shakespeares. Dass sich in dessen zentraler Figur Prospero, der die Welt mit magischen Kräften wie ein großes Illusionstheater beherrscht, nicht nur der Dichter, sondern auch der Komponist gerne gespiegelt sahen, liegt auf der Hand.
Vielleicht ist darin das Geheimnis der Leichtigkeit verborgen, mit der Sibelius nicht nur die atonal tosende Ouvertüre, sondern auch die mediterrane Heiterkeit der imaginären Insel-Szenerie gestaltet hat.
Hatte Sibelius den "Sturm" in den Jahren 1924-25 vorwiegend in Finnland komponiert, so reiste er 1926 nach Italien, um an "Tapiola" op. 112 zu arbeiten – verkehrte Welt. Denn diese Tondichtung, ein prominenter Auftrag aus New York, ist dem Waldgott Tapio des finnischen "Kalevala"-Epos gewidmet.
Sibelius, der sich – in deutscher Sprache – einmal als eine "Erscheinung aus den Wäldern" charakterisierte, widmete sich in diesem letzten großen Werk der Naturstimmung seiner Heimat. Oder nicht? Teile des Werks entstanden auf der keineswegs baumlosen Insel Capri, und um den Titel und die programmatischen Hinweise kümmerten sich Frau und Tochter mehr als der Komponist selbst. Auch wenn er gegen diese Assoziationen nichts einzuwenden hatte: wesentlich scheinen sie für ihn nicht gewesen zu sein.
Was immer wir uns beim Hören darunter vorstellen, Sibelius führt uns in diesem etwa 17 bis 18 Minuten dauernden Satz in einen Dschungel motivischer Beziehungen.
Stellenweise ist die Musik so dicht, dass sie nur noch aus "Klang" zu bestehen scheint – und damit den Weg zur Mikropolyphonie der Nachkriegsmoderne ebnet.
Der Wald als Partitur
In diesem kontrapunktischen Gestrüpp den Überblick zu behalten, ist keine leichte Aufgabe für die zahlreichen berühmten Dirigenten, die "Tapiola" eingespielt haben. Unterdessen scheiden sich die Geister, wenn es um Tempofragen geht – knapp 15 Minuten ist das eine Extrem (Paavo Berglund), gut 20 Minuten das andere (Herbert von Karajan).
Fest steht, dass "Tapiola" von Robert Kajanus' Ersteinspielung in den frühen 1930er Jahren bis zu Hannu Lintus aktueller Produktion nichts von seiner Faszination verloren hat. Das kann auch unser Studiogast Tomi Mäkelä bestätigen, der als Professor für Musikwissenschaft an der Universität Halle-Wittenberg lehrt und der über Sibelius etliche Aufsätze und zwei umfassende Bücher geschrieben hat.