Tarjei Vesaas: "Das Eis-Schloss"
Aus dem Norwegischen von Hinrich Schmidt-Henkel
Guggolz Verlag, Berlin 2019
199 Seiten, 22 Euro.
Poetischer Blick ins kindliche Seelenleben
05:51 Minuten
Norwegen ist das Gastland der diesjährigen Frankfurter Buchmesse, zu diesem Anlass erscheinen viele neue Übersetzungen. Wenn man aber nur Zeit für die Lektüre eines einzigen norwegischen Romans hat? Dann sollte man "Das Eis-Schloss" von Tarjei Vesaas lesen.
Die verstorbene Schriftstellerin Doris Lessing schrieb über dieses Buch, es sei einzigartig: "So feinsinnig. So stark. So anders als alle anderen."
Das hymnische Plädoyer der britischen Literaturnobelpreisträgerin ist als Nachwort in diesem besonders schön gemachten Band abgedruckt. Und man möchte nach der Lektüre jedes Wort unterschreiben.
Der norwegische Schriftsteller Tarjei Vesaas (1897-1970) ist einer der großen und bedeutenden Autoren seines Landes. Zu seinem Anwesen pilgern bis heute noch viele Anhänger. Und dass er nie den Nobelpreis erhalten hat, kann kein norwegischer Leser verstehen.
Eine Mädchenfreundschaft
Im Zentrum des Romans stehen zwei kleine Mädchen. Sie gehen in dieselbe Schulklasse: Die muntere Siss und die in sich gekehrte Waise Unn. Die eine gehörte immer schon zur Dorfgemeinschaft, die andere ist gerade erst zugezogen. Ihre Mutter ist gestorben und nun lebt sie bei ihrer Tante.
Beide Mädchen sind elf Jahre alt und von Anfang an fühlen sie sich zueinander hingezogen. Es dauert jedoch eine Weile, bis sie Freundinnen werden, bis die eine die andere einlädt und sie sich einen Abend lang nah sind, voller Vorfreude auf ihre kommende gemeinsame Zeit.
Am nächsten Tag, als beide noch von der Intensität der Begegnung erfüllt sind, geht Unn nicht in die Schule. Sie will die Wiederbegegnung hinaus zögern. Stattdessen macht sie einen Ausflug zum eingefrorenen Wasserfall, zum titelgebenden Eis-Schloss. Sie geht hinein, angezogen von den glitzernden Räumen, dem hellen Licht – und findet nicht wieder hinaus.
Trauer der zurückgebliebenen Freundin
Im zweiten Teil des Romans, der auf eindrucksvolle Weise vom kindlichen Seelenleben erzählt, trauert die zurückgebliebene Freundin. Sie wird so scheu und in sich gekehrt wie die andere es war, sie will um jeden Preis verhindern, dass Unn vergessen wird. Fast verschwindet auf diese Weise auch sie selbst, aber ihre Klassenkameradinnen holen sie am Ende wieder heraus aus der selbst auferlegten Isolation.
Dem Autor ist eine ungewöhnliche Studie über Einsamkeit und Trauer gelungen, geschrieben in einer wunderbaren lyrischen Sprache. Er entwirft poetische Bilder von enormer Kraft, die der Übersetzer Hinrich Schmidt-Henkel bezwingend ins Deutsche übertragen hat.
Man meint, die beiden Mädchen zu kennen, ist mit ihnen heiter und vorfreudig und voller Schmerz, weil die Nähe – im wahren Sinn des Wortes – endgültig erkaltet ist.