Tarjei Vesaas: "Die Vögel"
Aus dem Norwegischen von Hinrich Schmidt-Henkel
Mit einem Nachwort von Judith Hermann
Guggolz Verlag 2020
279 Seiten, 22 Euro
Glühende Gefühle, filigrane Sprache
06:29 Minuten
Was für eine Wiederentdeckung: Der norwegische Autor Tarjei Vesaas erzählt in seinem Roman "Die Vögel" von einem ungleichen Geschwisterpaar. Der einfältige Bruder gilt den Dorfbewohnern als "Dussel", tatsächlich schaut er feinnervig auf die Welt.
Mattis und Hege, Bruder und Schwester, leben in einem kleinen Häuschen am Rande des Dorfes. Sie ist 40, er drei Jahre jünger. Sie strickt mit schnellen Fingern einen Pullover nach dem anderen, um Geld zu verdienen. Er träumt und denkt und sitzt und schaut. Immer wieder schickt sie ihn auf die Höfe, um nach Arbeit zu suchen. Unwillig geht der dünnhäutige Mattis, den sie "Dussel" nennen, ins Dorf, denn er weiß, dass es ja doch wieder nicht klappen wird.
Und dann beugt er sich über die Furche im Rübenacker, konzentriert sich so sehr, dass die Gedanken sich zerstreuen, die Finger sich verhakeln und er die frischen Pflänzchen ausreißt statt des Unkrauts. Mattis lebt in einer anderen Welt, horcht auf den Schnepfenflug, und wenn der Vogel genau über das Haus fliegt, in dem Hege und er wohnen, dann weiß er: Jetzt wird alles anders. Er ist anders und hockt glücklich in der Nacht, weckt ungeduldig seine Schwester, damit sie teilhaben kann an dem großen Ereignis. Schon lange nagt das Unglück mit dem einfältigen Bruder an Hege. Manchmal ist sie unwirsch mit ihm, dann wieder voller Mitleid.
In den feinen Verästelungen eines merkwürdigen Kopfes
Eines Tages meint sie scherzhaft, er könne doch Fährmann werden und Menschen von einer Seite des Sees auf die andere transportieren. Denn rudern kann der Mattis, schnurgerade kann er rudern. Nur will kein Mensch über diesen See gefahren werden. Doch er ist glücklich in seinem morschen Boot, rudert Tag für Tag hin und her, wartet geduldig. Und da er ja nun eine Arbeit hat, muss er nicht mehr auf die Äcker.
Tarjei Vesaas, ein norwegischer Autor, der von 1897 bis 1970 lebte, wurde hierzulande von dem kleinen Guggolz Verlag wiederentdeckt. Welch Glück! Denn schon der im letzten Jahr veröffentlichte Roman "Das Eis-Schloss" hat gezeigt, mit welch grandioser Souveränität Vesaas komplexe, ja glühende Gefühle in eine kühle, filigran genaue Sprache fassen kann.
In "Die Vögel" nistet er sich ein in den Kopf des "Dussels" und macht aus dem Einfältigen einen vielfältig wirbelnden Charakter, der vieles nicht versteht, dann aber mit lichter Intuition Dinge erspürt, die den anderen verborgen bleiben. Und das in einer Intensität, die auch das Nervensystem der Lesenden gründlich durchzieht. Wenn Mattis traurig ist, dann ist er Traurigkeit, wenn er sich freut, dann ist er Freude, wenn er ängstlich ist, dann ist er Angst. Und wir folgen Vesaas Satz für Satz, Zeile für Zeile in die feinen Verästelungen in diesem merkwürdigen Kopf.
Eine eigentümlich wilde Welt
Eines Tages hat Mattis tatsächlich einen Fährgast: ein Holzfäller auf der Suche nach Arbeit. Er rudert ihn hinüber und bietet dem Fremden an, vorübergehend bei Hege und ihm zu wohnen. Und holt sich damit das Unheil ins Haus. Denn Hege und der Mann finden Gefallen aneinander. Und Mattis, der nun in der Panik lebt, von den beiden alleingelassen zu werden, schmiedet einen schrecklichen, einen todtraurigen Plan.
Man versinkt in diesem eigentümlich wilden Buch – glänzend übersetzt von Hinrich Schmidt-Henkel –, wird so eingesponnen in Mattis feinnervig konfuse Welt, dass man ein wenig betäubt in die Wirklichkeit schaut, wenn man auftaucht aus der Lektüre.