Tausend Folgen Mittelmäßigkeit?
Nach 46 Jahren "Tatort" im Fernsehen läuft am Sonntag der 1000. Fall. Millionen schalten jede Woche ein, für viele ist das Format Kult. Für Kultur- und Sozialphilosoph Alfred Pfabigan macht der "Tatort" allerdings ziemlich viel falsch. Die Deutschen liebten den "Tatort" trotzdem - wegen der durchschnittlichen Kommissare.
Am 13. November 2016 wird die 1000. Folge des "Tatort" ausgestrahlt, und sie wird so heißen wie die allererste, die am 29. November 1970 über die Schirme flimmerte: "Taxi nach Leipzig". Die "Tatort" Krimis als Gemeinschaftsproduktion der neun ARD-Rundfunkanstalten sowie des Schweizer Fernsehen (SRF) und des Österreichischen Fernsehen und Rundfunks (ORF) sind regelmäßig sonntagabends Straßenfeger mit beeindruckenden Einschaltquoten. Kaum eine andere Krimireihe hat die Deutschen zu vermeintlichen Experten des Kriminellen gemacht wie der seit 1970 im Fernsehen laufende Tatort.
Der österreichische Kultur- und Sozialphilosoph Alfred Pfabigan zieht eine kritische Bilanz von eintausend Folgen "Tatort" .
"Das ist so retro, das macht eigentlich alles falsch, was in den Theorien des modernen Fernseherzählens drinnen ist", sagte der Autor des Buches "Mord zum Sonntag. Tatortphilosophie" im Deutschlandradio Kultur das Objekt seine Studien im Vergleich zu US-amerikanischen oder schwedischen Polizeifilmen". "Und trotzdem setzt es sich durch und die Menschen lieben es."
Zu viele Kommissare, zu ausuferndes Privatleben
Aktuell zu viele Kommissare sowie zu oft ein raumgreifendes Darstellung des Privatlebens der Ermittler, das nicht mit dem Handlungsfaden verbunden sei, zählen für Pfabig an zu den aktuell größten Fehlern der Reihe. Auch werde oft Zeit geschunden: "Sinnlos lange Autofahrten, wie der Handwerker, wenn er noch die Stunde vollkriegen will, die er einem verrechnen will."
"Die Deutschen mögen den Tatort weil seine Kommissare so durchschnittlich und uncharismatisch sind," knüpfte Pfabigan an kritische Urteil Umberto Ecos und der New York Times an. "Die essen ihre Pizza oder ihre Currywurst, und streiten um den Kaffee, wer den jetzt zubereiten muss, wer ihn zahlen muss, ob er zu heiß ist oder zu kalt, und das schafft ein heimeliges durchschnittliches Klima und das mögen die sehr."
Tatsächliche Tabu-Themen erst spät aufgegriffen
Während die wohl langlebigste Fernsehreihe in den Medien oft als "kulturelles Gedächtnis" wahrgenommen wird, das Kapitalismuskritik, sensible Themen und aktuelle Fragen nicht scheut, monierte Pfabigan, dass der Tatort tatsächliche Tabu-Themen wie die NS-Vergangenheit erst 1998 erstmals thematisiert habe. "Dann hat er sich sehr stark entwickelt zu einem Formt, das die soziale Gerechtigkeit gefeatured hat und mittlerweile ist er ein bisschen ein Regierungsformat", sagte Pfabigan. Jüngste Experimente mit "Tarantino-haften Formaten" zeigten allerdings die Wandlungsfähigkeit der Reihe. Möglicherweise liege darin das Geheimnis des langjähriges Bestehen trotz Krisenzeiten.
Adele Neuhauser spielt Harald Krassnitzer an die Wand
Mit Blick auf die Folgen, die die Österreicher in die Gemeinschaftsproduktion von ARD, ORF und SF einbringen, zeigte sich Pfabigan beeindruckt von der schauspielerischen Leistung Adele Neuhausers. Generell werde oft wenig beachtet, dass der ORF mit sehr prominenten Schauspielern und markanten Figuren von Anfang an dabei gewesen sei. Nach einer Zwischenkrise gebe es mittlerweile mit den Ermittlern Bibi Fellner (Adele Neuhauser) und Moritz Eisner (Harald Krassnitzer) ein sehr gutes Ermittlerteam: "Vor allem eine sehr gute weibliche Ermittlerin, die ihren Partner ein wenig an die Wand spielt. Die sich emanzipiert hat aus der Rolle einer sehr unwürdigen Person zu einer sehr eigenständigen. Und wir haben auch einige Drehbuchautoren wie Max Gärtner, die die Kulisse, die manchmal vollkommen irrelevant ist für die Handlung doch in den Fall hineinzieht."
Das Interview im Wortlaut:
Ute Welty: Die Region, der Kommissar und die Geschichte – drei Dinge braucht der "Tatort", und dieses Wochenende, das steht ganz im Zeichen eines besonderen "Tatorts", denn es ist der eintausendste, der im Übrigen so heißt wie der erste, nämlich "Taxi nach Leipzig". Ausgestrahlt wurde dieser erste "Tatort" 1970, angelegt war die Reihe damals auf etwa zwei Jahre und sie findet nach wie vor ihr Publikum. Bis zu 14 Millionen Menschen verfolgen den Mord zum Sonntag. Und mit "Mord zum Sonntag" ist auch das Buch von Alfred Pfabigan überschrieben, der Politologe und Sozialphilosoph zieht darin eine – na, ich drücke es mal vorsichtig aus – nicht ganz unkritische Bilanz. Guten Morgen, Herr Pfabigan!
Alfred Pfabigan: Guten Morgen!
Welty: Es sind nicht weniger, für die ist der "Tatort" das mediale Lagerfeuer, um das sich die Nation versammelt, um sich am Gemeinschaftserlebnis zu wärmen. Was ist der "Tatort" für Sie?
Pfabigan: Ach, für mich war er mehr ein Objekt der Studie. Ich …
Welty: Wie unromantisch!
Pfabigan: Nein, ich habe mich interessiert fürs serielle Erzählen und habe die "Tatorte" verglichen mit den amerikanischen und den schwedischen Polizeiserien, und auf einmal bin ich darauf gekommen, das ist etwas ganz Eigenständiges. Das ist ein Stück, das ist so retro, das macht eigentlich alles falsch, was in den Theorien des modernen Fernseherzählens drinnen ist, und trotzdem setzt es sich durch und die Menschen lieben es.
Welty: Sagen Sie doch mal die größten drei Fehler!
Pfabigan: Ach, die größten drei Fehler sind, dass es im Augenblick zu viele Kommissare gibt, dass das Privatleben und in vielen Fällen auch der gesellschaftskritische Aspekt nicht verbunden ist, nicht wirklich verbunden ist mit dem Fall, und dass, wenn ich Wienerisch reden darf, dass Zeit geschunden wird. Also, dass manchmal sinnlos lange Autofahrten … Wie der Handwerker, wenn er noch die Stunde vollkriegen will, die er einem verrechnen will, oder dass zu viele Nahrungsmittel und zu viele Bonsais gezüchtet werden.
Welty: Sie ha… Zu viele Bonsais gezüchtet werden?
Pfabigan: Es gab mal einen, der hat Bonsais gezüchtet.
Welty: Sie haben aber im Übrigen mit meinem Vater gesprochen, ne? Weil, das ist genau die Kritik, vor allen Dingen die Migränebefindlichkeiten bestimmter Ermittlerinnen gehen ihm – verzeihen Sie mir den drastischen Ausdruck – ziemlich auf den Zeiger.
Pfabigan: Na ja, ich sollte Ihren Vater kennenlernen, aber vielleicht kommt er auch noch aus der Generation, wo der Polizeifilm ein hartes Genre ist, das gleichzeitig die moralische Frage – Recht oder Unrecht – und die Frage Intuition oder Empirie in den Mittelpunkt stellt. Es gibt da frühe Regeln und der "Tatort" hat die gebrochen.
Welty: Inwieweit hat sich der "Tatort" auch verändert, weil sich eben auch die gesellschaftlichen Verhältnisse verändert haben? 1970 war eine Taxifahrt nach Leipzig ja ein echtes logistisches Problem, 2016 ist es vor allem eine Frage des Preises.
"Am Anfang war er ein bisschen ein Verleugnungsorgan"
Pfabigan: Ja, der "Tatort" hat sich ohne Zweifel verändert. Er hat ja … Am Anfang war er eigentlich ein bisschen ein Verleugnungsorgan. Das heißt, ich meine, wir waren 1970, wir waren in der Nähe des Eichmann-Prozesses, des Auschwitz-Prozesses, da waren so viele Dinge, über die durften wir nicht reden, über die hat der "Tatort" auch erst 1998 das erste Mal geredet und dann hat er sich sehr stark entwickelt zu einem Format, das die soziale Gerechtigkeit gefeaturet hat. Und mittlerweile ist er ein bisschen ein Regierungsformat und seit etwa zwei bis drei Jahren experimentiert er mit Tarantino-haften Formaten oder mit Nick Tschiller zum Beispiel, das heißt, mit einem, sagen wir mal, mit einem Bruce-Willis-Verschnitt. Also, der "Tatort" hat sich kräftig geändert, ohne Zweifel. Das ist wahrscheinlich das Geheimnis seines Überlebens, ja, er hat ja viele Krisen überstanden. Und wäre er privat und nicht öffentlich-rechtlich produziert, hätte man ihm schon längst den Geldhahn abgedreht.
Welty: Der "Tatort" schmückt sich mehr als einmal damit, die Themen der Zeit aufzugreifen, von Radikalisierung über Menschenhandel bis hin zu Gammelfleisch. Ist das der Stoff, aus dem die guten Krimis sind?
Pfabigan: Es könnte schon der Stoff sein, aus dem die guten Krimis sind. Nur, wenn man tief in die Muslimfrage hineingeht und am Ende stellt man dann fest, der erste Mord, der eigentlich die Initialzündung für die ganze Muslimdebatte war, das war einfach ein Streit zwischen einem dominanten Teenager und einem von ihm segierten und beide sind deutsch, dann ist das ein ganz ein kleines bisschen für den, der nachdenkt darüber, ärgerlich.
Welty: Wenn Sie sagen, der "Tatort" ist so retro, würden Sie dann auch sagen, der "Tatort" ist typisch deutsch?
Pfabigan: Ich verschanze mich jetzt hinter Umberto Eco weiland, zu "Derrick" und hinter der "New York Times", nämlich …
Welty: Das ist aber auch eine lustige Mischung, die Sie da gerade anführen als Belege!
Pfabigan: Die haben nämlich gesagt, die Deutschen mögen den "Tatort", weil seine Kommissare so durchschnittlich und so uncharismatisch sind. Die sind keine Superhelden oder sonst etwas, sondern die essen ihre Pizza oder ihre Currywurst und streiten um den Kaffee, wer den jetzt zubereiten muss, wer ihn zahlen muss, ob er zu heiß ist oder zu kalt, und er schafft ein heimeliges, durchschnittliches Klima und das mögen die so sehr.
Welty: Schauen Sie als Österreicher eigentlich die österreichischen Folgen lieber als die aus München, Münster oder Bremen?
Pfabigan: Lange Z… Das ist ein Auf und Ab. Zunächst einmal bin ich entzückt von Ihnen, dass Sie die österreichischen Folgen erwähnen. Weil, diese Eingemeindung, die da im Augenblick stattfindet, dass niemand über Österreich spricht – und wir waren von Anfang an dabei und die Schweizer waren auch dabei –, das erinnert an diese Anthologie von Benno Wiese, "Deutschland erzählt." Von Kafka bis Peter Handke. Also, danke schön zunächst einmal!
Welty: Gern geschehen!
"Weibliche Ermittlerin, die ihren Partner an die Wand spielt"
Pfabigan: Wir waren am Anfang mit sehr prominenten Schauspielern, sehr markanten Figuren da und dann ist auch der österreichische "Tatort" in die Krise gekommen, ungefähr parallel zu der Zeit der Einführung des Kabelfernsehens. Und mittlerweile haben wir ein sehr gutes Ermittlerteam, vor allem eine sehr gute weibliche Ermittlerin, die ihren Partner ein wenig an die Wand spielt und die sich emanzipiert hat aus der Rolle einer unwürdigen Person zu einer sehr eigenständigen, und wir haben auch einige Drehbuchautoren wie Florian Gärtner, die die Kulisse, die manchmal vollkommen irrelevant ist für die Handlung, in den Fall hineinziehen.
Welty: Das klingt ja jetzt zum Schluss doch noch ein bisschen versöhnlich. Vielen Dank, Alfred Pfabigan, Sie haben erst über den Mord zum Sonntag geschrieben und jetzt mit uns über den Mord zum Sonntag gesprochen, herzlichen Dank dafür!
Pfabigan: Schönes Wochenende in Berlin!
Welty: Ihnen auch!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.