Tatort Theben

Von Michael Laages |
Kichern haben diese Griechen nicht verdient: Nach einem starken Beginn wird in Stephan Kimmigs Inszenierung von vier antiken Tragödien am Deutschen Theater mit viel Klugheit ein großer Wurf verschenkt.
Kündigt sich da etwa wieder mal ein Theater-Trend an? Gleich zwei Berliner Bühnen haben die neue Saison mit reichlich rabiaten Bearbeitung historischer Stoffe eröffnet – das kleine Maxim-Gorki-Theater eröffnet die letzte Spielzeit des Intendanten Armin Petras mit einer Fassung der "Räuber" von Schiller, die das Stück auf drei Monologe verknappt; und das Deutsche Theater kündigte mit "Ödipus. Stadt" nichts weniger als eine Trilogie an, die alle Texte vereinen sollte, die sich mit mythischen Ödipus-Fabel befassen … doch Mogelpackung und Kunststück zugleich ist diese Chronologie eines göttlichen Fluchs.

Denn zwar kommen insgesamt sogar vier antike Stücke vor: das über "Ödipus" selber natürlich, in dem Sophokles die legendäre Geschichte vom Wahrheitssucher erzählt, der verflucht ist, damit nur die eigene Schuld zu erforschen … dann rufen die Trommeln zur Schlacht, und mit "Sieben gegen Theben" von Aischylos und den "Phönizierinnen" von Euripides folgen zwei Texte, die sich mit dem tödlichen Bruderzwist befassen, der auf das Ende von Odipus' Herrschaft in Theben folgt, und der auch vom klugen Königsberater Kreon nicht aufzuhalten ist; schließlich will die "Antigone" des Sophokles, Ödipus' Tochter, den der beiden toten Brüder bestatten, der den Aufruhr gegen Theben wagte. Antigone predigt damit ihrerseits den Aufruhr gegen Kreon, der nun (als Nachfolger der Söhne und Schwager von Ödipus) in Theben herrscht und den der Opfertod des eigenen Sohnes derart mitgenommen hat, dass er nun selber zum Tyrannen mutiert und praktisch alles, jeden und jede und auch das Menschenrecht der Totenruhe, der Staatsräson opfert.

Das Recht der Herrschaft steht nun gegen Menschenrecht – und der Fluch, verhängt von den Göttern über das Haus des Ödipus (und eben die Stadt), erfüllt sich final.

Diesen großen Bogen der Geschichte bekommt das Berliner Team um Dramaturg John von Düffel und Regisseur Stephan Kimmig tatsächlich in den Griff; die Chronik der Verfluchten weist enorme Dynamik auf – und erledigt die komplizierte Ödipus-Fabel, diesen großen Kriminal-Fall der frühen Welt- und Theatergeschichte, gleich zu Beginn in gerade mal 50 Minuten. Gregor Schreiners neue Übersetzung ist sachlich und zum Glück nirgends angestrengt modern, zugleich aber verzichtet sie auf beinahe alle Poesie, die diesen Tragödien in früheren Übertragungen eben auch eingeschrieben wurde. "Ödipus. Stadt" ist eine Art sehr starker "Tatort".

In Theben wird ermittelt; Ulrich Matthes als Ödipus ist Detektiv und Täter zugleich, er blendet sich im Moment, da er die Wahrheit endlich sieht. Auf der Half-, besser: Viertel-Pipe-Bühne von Katja Haß, einer bühnenfüllenden Bodenwelle, die sich von der Mitte der Bühne bis zur hinteren Brandmauer hinten empor schwingt und auf der sich rennend prima Sterben üben lässt, ohne dass je einer wirklich oben ankäme, trägt das Ensemble durchweg antikische Röcke zu modernen Schuhen an nackten Füßen – überall herrscht Sachlichkeit. Und wenn der blinde Seher Teiresias mal wieder Visionen hat, deutet der überhohe Ton dieser Rolle jene Ironie an, in der der schnelle, kluge Abend dann im letzten Teil leider völlig zuschanden geht.

Von Susanne Wolff, die zuvor schon das Zentrum war (als eindrucksvoll und verlässlich berechnender Kreon), bleibt zum Schluss nur die Karikatur eines Machtmenschen, das Zerrbild seiner selbst und einer Welt am Abgrund. Und Antigone ihm gegenüber ist bei Kathrin Wichmann nur ein zeterndes Mädchen, ihre Forderung nach Ehrung der Toten ist wie Straßenlärm von "attac" oder "occupy" … Dafür darf sie für's allerletzte Wort aus dem Totenreich zurück kehren, um (mit Texten des an sich gestrichenen Chores) auch Kreon zu verdammen. Nein – für den vertrautesten der antiken Texte, eben für "Antigone", hat der Abend überhaupt kein stimmiges Konzept. Stattdessen darf es hier sogar ein wenig albern zugehen – es wird denn auch eifrig gekichert im Premierenpublikum.

Und das hat keiner dieser alten Griechen verdient. Auch das Ensemble nicht: neben Matthes und Wolff (und jungen Kräften) die Iokaste von Barbara Schnitzler und Sven Lehmanns gruseliger Profi-Wahrsager Teiresias. Vielleicht aber war es doch keine so gute Idee, den Chor zu streichen – beziehungsweise zu verknappen auf die letzten Worte und die ersten, die zwei liebliche Kinderlein auf Band gesprochen haben. Sollen wir etwa mit Kinderaugen den großen Mythos schauen? Zwingend ist das nicht, produktiv auch nur sehr bedingt – mit sehr viel Klugheit wurde hier ein großer Wurf letztlich verschenkt. Und auf den starken Start folgt ein flaches, flaues Ende.

Informationen des Deutschen Theaters zur Inszenierung von "Ödipus Stadt"
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