Taumel in den Abgrund

Rezensiert von Eberhard Straub |
Kaiser und Könige, Präsidenten und Generäle bewegten sich 1914 mit traumwandlerischer Sicherheit auf die Katastrophe des Ersten Weltkriegs zu. Wie es dazu kommen konnte, beschreibt der Cambridge-Historiker Christopher Clark in dieser weit ausgreifenden Analyse.
Der Erste Weltkrieg ist die größte Katastrophe in der europäischen Geschichte – die größte seit der Französischen Revolution und den Kriegen zwischen Frankreich und Europa, die von 1792 bis 1815 dauerten. Auf dem Wiener Kongress 1814/15 gelang es, das völlig aus dem Gleichgewicht geratene Europa noch einmal zu ordnen. Hundert Jahre später zerbrach diese Friedensordnung endgültig. Sie wurde durch keine neue ersetzt.

Die Folgen des Großen Krieges, wie die meisten Europäer den Ersten Weltkrieg nennen, sind bis heute nicht überwunden. Hundert Jahre nach der Julikrise 1914 wird im Streit um den Euro abermals offenbar, wie ungesichert die Idee und Wirklichkeit Europas ist.

Daran erinnert eindringlich Christopher Clark mit seiner weit ausgreifenden Analyse. Wie "Sleepwalkers", wie Schlafwandler, wirken auf ihn die Kaiser, die Könige, der französische Präsident sowie deren Minister und Generäle.

Befangen in der Welt ihrer begrenzten Vorstellungen können sie nicht mehr die vielfältigen Beziehungen der Mächte untereinander überblicken und als ein freies System verstehen. Sie gehen ihren Weg und erst im Absturz erwachen sie und erschrecken weniger über sich als über die anderen. Damit beginnt ein anderer Weltkrieg, ein Krieg der Dokumente, der Erklärungen, Vorwürfe und Rechtfertigungen, der bis heute nicht zur Ruhe gekommen ist.

Prototypen der Moderne
Christopher Clark lehrt moderne europäische Geschichte an der University of Cambridge. Und so bezieht er sich auf eine Trilogie, die der österreichische Schriftsteller Hermann Broch 1930 fertiggestellt hat. In drei Romanen schildert dieser überwache Diagnostiker seiner Zeit an deutschen Beispielen die Entwicklung seiner "Schlafwandler" von 1888 bis 1918.

Sie finden sich nicht mehr in einer unübersichtlichen Wirklichkeit zurecht. Als Prototypen der Moderne, vor sich hin dämmernd im Taumel der Zeit, folgen sie bereitwillig einem ganz neuen Imperativ: Tu, was geschieht, schwinge mit und lass Dich tragen, wohin auch immer. Vereinzelte Schlaflose, hellwache Randfiguren, überfällt zuweilen eine Angst, von der die Zukunftsgestalter nicht angesteckt werden, die sich mit traumwandlerischer Sicherheit, ohne es zu ahnen, dem Abgrund nähern, in den sie stürzen werden.

"In diesem Sinne waren die Protagonisten der Julikrise 1914 Schlafwandler, umsichtig ohne Fähigkeit zu sehen, befangen in Traumbildern und blind für die Wirklichkeit der Schrecken, die ihr vor sich hintreibendes Gewährenlassen in die Welt brachte."

Nicht ungewöhnlich unter englischen Historikern wahrt Christopher Clark Distanz zu den sehr schlichten Thesen Fritz Fischers. Der Hamburger Geschichtsprofessor löste in den 60er-Jahren eine wissenschaftliche Kontroverse aus, weil er imperialistischen Deutschen vorwarf, zielstrebig nach der Weltmacht gegriffen zu haben und dadurch Schuld am Kriege gewesen zu sein, so wie sie die Sieger 1919 im Versailler Vertrag festgelegt hatten.

Lesart: Christopher Clark: "The Sleepwalkers. How Europe Went to War in 1914"
Lesart: Christopher Clark: "The Sleepwalkers. How Europe Went to War in 1914"© Promo
Die Deutschen waren nicht die einzigen Imperialisten
Doch wenn die Interessen von fünf Großmächten und mehreren Regionalmächten so unvereinbar aufeinander prallen, dass sämtliche Regierungen einen Krieg als rettenden Ausweg nicht ausschließen wollen, erübrigt sich die Frage nach der Alleinschuld eines Beteiligten.

"Der Kriegsausbruch 1914 ist nicht ein Agatha-Christie-Stück, an dessen Ende wir in einem Gewächshaus den überführten Missetäter mit noch rauchender Pistole vor einer Leiche entdecken. In dieser Geschichte gibt es keine rauchenden Gewehre, oder besser gesagt, jede der wichtigsten Personen der Handlungen hält eine Schusswaffe in der Hand."

Die Deutschen waren nicht die einzigen Imperialisten, und auch nicht die einzigen, die ihre Daseinsängste übertrieben und ihrem Verfolgungswahn erlagen.

"Die Krise, die 1914 in den Krieg führte, war das Ergebnis einer gemeinsamen politischen Kultur. Sie entwickelte sich in einem vielfach gebrochenen Beziehungsgeflecht – das macht sie zum kompliziertesten Ereignis unserer Moderne und erklärt, weshalb die Debatte über die Ursprünge des Ersten Weltkrieges nicht aufhört."

Christopher Clark beschäftigt die Frage, wie die Pentarchie, ein System kollektiver Sicherheit, gewährleistet durch die fünf Großmächte des Wiener Kongresses, ab 1904 zunehmend an Funktionsstörungen leidet. Noch um 1902 halten sie einander wie eh und je für koalitionsfähig. 1907 stehen sich zwei Blöcke gegenüber, die von Großbritannien geführte Triple-Entente und der von Deutschland geleitete Dreibund.

Die Briten quälte eine Angst vor einem deutschen Europa
Weder Russen noch Franzosen, Österreicher, Ungarn oder Italiener wollen vorbehaltlos Satelliten ihrer Führungsmacht sein, die das Bündnis als Mittel für ihre Zwecke betrachten. Großbritannien fürchtet Perioden des "Tauwetters" zwischen Frankreich, Russland und Deutschland und damit eine kontinentale Verständigung auf seine Kosten.

Das Deutsche Reich muss Italien geduldig behandeln, um es davor zurückzuhalten, den Block zu wechseln, und es darf Österreich-Ungarns Interessen nicht dauernd vernachlässigen und seinen wichtigsten Verbündeten endgültig schwächen. Das Deutsche Reich fühlt sich ab 1907 eingekreist. Deshalb sucht es mit geschickten oder ungeschickten Methoden die Entente zu sprengen oder zu schwächen.

Großbritannien sieht darin einen Versuch, den gesamten Kontinent gegen sich zu vereinen. Die Briten quälte eine Angst vor einem deutschen Europa, das sie unbedingt verhindern wollten. Die Deutschen fürchteten als wirtschaftliche und wissenschaftliche Weltmacht, nicht einmal mehr in Europa einen bevorzugten Platz behalten zu können.

Die Missverständnisse und Ängste der Großen Fünf wurden allerdings verstärkt durch die Begehrlichkeiten der kleinen Staaten in ihrem Dunstkreis. Sämtliche Großmächte verloren endgültig den Überblick in Räumen, die sie nicht mehr beherrschten.

Die europäische Politik unmittelbar vor 1914 verstrickte sich in regionalen Interessen und führte in die Balkanisierung Europas. Davon hat sich Europa bis heute nicht erholt. Christopher Clark erklärt, wie es dazu kam.

Christopher Clark: The Sleepwalkers. How Europe Went to War in 1914
Allen Lane Verlag, London 2012,
736 Seiten, 30,00 £, auch als ebook erhältlich

oder

Die Schlafwandler: Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog
Aus dem Englischen von Norbert Juraschitz
DVA Sachbuch 2013
896 Seiten, 39,99 Euro
auch als ebook und als Hörbuch erhältlich
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