Die Vermessung des Lesers
E-Books, Social Reading und Self-Publishing: Mit der fortschreitenden Digitalisierung der Literatur rückt des maßgeschneiderte Buch und der "gläserne Leser" in greifbare Nähe.
"Sowas, ich bin ja die Erste. Naja, dann leg ich einfach mal los. Also: Ich hab den ersten Teil von 'Glück in Ketten' gelesen, und bis jetzt gefällt mir die Geschichte sehr gut. Prima, dass die Charaktere gleich mal auf den ersten Seiten vorgestellt werden, das hilft immer beim Lesen. Manche Autoren machen’s einem ja unnötig schwer. Freu mich auf die Diskussion mit Euch."
"Danke, Karo, dass Du schon mal angefangen hast. Ich find den Einstieg auch super. Man kommt gut in die Geschichte rein. Am Anfang dachte ich allerdings, dass Benni der Freund von Lotta ist - ist aber quatsch. Man merkt das dann ja auf Seite 27, dass da gar nichts läuft. Im Gegenteil. Ich glaub eher, der hasst sie ein bisschen. Man muss ja nur mal gucken, wie die mit ihrem Kind umgeht. Müsste man glatt das Jugendamt hinschicken, wenn das gehen würde. Bin gespannt, wie es weitergeht, wenn sie sich in dem Schloss wiedertreffen."
"Bin schon so im Leserausch, dass ich erstmal weiter lesen musste, bevor ich hier was schreibe. Ziemlich spannend. Ich glaub ja, die beiden werden sich noch kriegen, auch wenn der Titel des Romans das nicht gerade verspricht. Muss wieder zurück zum Buch …"
"Also, ich find‘s schön, dass es Dir auch so geht: Das ist wirklich ein toller Roman. Aber irgendwer hier im Forum muss mir mal erklären, warum im dritten Kapitel dieser ekelhafte Schlägertyp auftreten muss. Den hätte man der Autorin echt mal ausreden sollen."
Auf Internet-Seiten wie Lovelybooks oder Goodreads tummeln sich Leser, die nicht mehr einfach nur lesen wollen. In Echtzeit kommentieren sie Romane und Sachbücher, quasseln über Figuren, Handlung und Plot oder diskutieren ganz seriös über literarische Motive und wissenschaftliche Themen. Social Reading nennt man das. Das Leseerlebnis wird geteilt - mit anderen Usern, gern auch mit den Autoren selbst, die Rede und Antwort stehen zu ihren Figuren oder Erzählstrategien. Um elektronisch verlegte Texte wuchert ein riesiges Gestrüpp aus Randbemerkungen.
Stephan Füssel: "So entstehen neue Paratexte, Texte zum Text, die hinzugegeben werden. Und diese Texte bilden dann wiederum eine neue Rezeptionsphase."
Professor Stephan Füssel, Buchwissenschaftler an der Johannes Gutenberg Universität in Mainz.
Stephan Füssel: "Wenn ich das vergleichen darf: Wenn wir heute eine mittelalterliche Handschrift aufschlagen, dann sind wir nicht nur daran interessiert zu sehen, was der ursprüngliche Autor denn dort geschrieben hat, sondern auch, was mögliche Benutzer an den Rand geschrieben haben. Und genau diese Erfahrung machen wir jetzt wieder. Wir haben Klassikerausgaben, die jetzt im Netz stehen, die dann, ganz absichtlich, von sieben, acht, neun Lesern kommentiert wurden. Das nehmen sie gleichzeitig mit auf. Das heißt, sie haben nicht mehr den unverstellten Blick auf den Text, sondern sie haben jetzt einen Text, den andere mitgeprägt haben."
"Oje, nun geht es ganz schön unschön zur Sache. Bin jetzt gerade im dritten Kapitel. Und ihr?"
"Ja, und das mit den Ketten meint die Autorin auch noch wörtlich. Ich will mal nicht zu viel verraten, falls hier jemand noch nicht so weit ist."
"Metaphorisch wär mir das lieber gewesen. Kann das Buch echt nicht mehr weglegen."
Einladung zum Mitschreiben
Stephan Füssel: "Beim Social Reading wird auch der ganz einfache, schlichte Unterhaltungsroman diskutiert und vorgestellt. Das liegt sicherlich auch daran, dass beim Social Reading eine gewisse Anonymität auch da ist. Nicht unzufällig ist im Jahr 2012 (…) das am meisten diskutierte Buch beim Social Reading "Shades of Grey" gewesen. Also ein Text, über den man sich vielleicht nicht unbedingt mit seinen Freunden, Nachbarn usw. unterhalten möchte, der hier aber so viel Kommentare hat, dass diese Texte zwanzigfach mehr im Netz kommentiert und vorgestellt wurden."
Die Frankfurter Buchmesse. Lesen im Netz boomt, und bekannte Internet-Protagonisten sind dem Zeitgeist dicht auf der Spur. Sascha Lobo stellt sein neuestes Projekt Sobooks einem Kreis von Journalisten vor.
Sascha Lobo: "Sobooks heißt Social Books, und was wir erforschen wollen ist, wie man in Büchern diskutieren kann, das ist für uns sehr zentral. Auch deswegen weil wir glauben, dass ein großes ungehobenes Potential, kommerzielles Potential, geschäftliches Potential vorhanden ist."
Sascha Lobo präsentiert in Frankfurt eine neue Buchhandelsplattform, die nicht nur zum Kaufen, sondern auch zum Mitschreiben einlädt. Sobooks ist eines von vielen neuen Experimenten auf dem Buchmarkt, die den Leser ins Buch holen wollen, ihn in ein digitales Gespräch einbinden möchten.
Sascha Lobo: "Gleichzeitig gibt es mit den sozialen Medien (…), die alle benutzen, dieses Gesprächsmedium Facebook, und wir versuchen das zusammenzubringen, so dass die Leute Bücher kaufen. Dazu wollen wir aber auch zeigen, wie man an dem natürlichsten Ort über den Inhalt von Büchern spricht, und das ist im Buch selbst."
In dieser schönen, neuen Bücherwelt wäre es besser, nicht allzu viele Lektüre-Geheimnisse haben zu wollen - oder nur noch, was ja aber auch nichts hilft und zugleich unhöflich ist, anonym aufzutreten. War da nicht was? Vor kurzem veröffentlichte Sascha Lobo in der FAS eine Art Mea-Culpa-Artikel, in dem er mit großem Aplomb bekannte, sich im Internet getäuscht zu haben:
"Was so viele für ein Instrument der Freiheit hielten, wird aufs Effektivste für das exakte Gegenteil genutzt. (…) Jede Verteidigung sozialer Netzwerke - auch ich habe das oft getan - muss nachträglich ergänzt werden um die Tatsache, dass soziale Netzwerke auch ein perfektes Instrument sind, um einen Sog privatester Informationen ins Internet zu erzeugen. Und damit zur Überwachung."
Digitale Aufbruchstimmung
Erzeugt aber nicht auch ein soziales Leseforum, wie es das in diesem Frühjahr startende Sobooks sein soll, einen solchen Sog?
Die digitale Aufbruchsstimmung jedenfalls ist ungebrochen: Das Buch soll mit dem Leser, und die Leser sollen untereinander vernetzt werden. Sie kommentieren, diskutieren, interpretieren, schwärmen, erklären, vermitteln. Noch sind das zaghafte Versuche. Die aber schon in eine Richtung weisen: hinaus aus dem stillen Kämmerlein, hinein in den unendlichen digitalen Diskursraum.
Stephan Füssel: "Das Thema Social Reading würde ich als erstes Mal übersetzen mit 'Lesen in der Gesellschaft oder in der Gemeinschaft'."
Michael Schikowski: "Das ist ein typisches Wort, das in zehn Jahren keinen Inhalt mehr haben wird. Denn ich weiß überhaupt nicht, was das sein soll, Social Reading."
Michael Schikowski, Buchhändler, Hochschuldozent und Kritiker der Digitalkultur.
Michael Schikowski: "Über Sprache wird viel eingerichtet, zurecht gemacht (…). Dann spricht man gelegentlich, auch Kunden in den Buchhandlungen, vom Reading, damit man zum Reader rüberkommt, begrifflich, sozusagen, da ist man dann schon in dem neuen Typ."
Der neue Typus des Lesers - hat dieser überhaupt noch etwas zu tun mit jenem alten, im Buch versinkenden Leser, für den das Entziffern der Zeichen auf einem Blatt Papier "eine essentielle Lebensfunktion" darstellt, wie es der Gelehrte Alberto Manguel einmal formulierte?
Readmill beispielsweise, eine von zwei jungen Schweden geschaffene Plattform, versteht sich als Bastion gegen die, wie sie sagen, "kalte und unsoziale" Bücherwelt. Stattdessen sollen User vernetzt werden, indem sie bei frischgekauften Büchern den Spuren früherer Leser folgen können. Big Reader is watching you: Unterstreichungen, Anmerkungen, Urteile. Selbst wenn man alleine vor seinem Computer sitzt - andere haben zuvor immer schon ihre Nase ins Buch gesteckt. Für Stephan Füssel nichts Neues:
Stephan Füssel: "Das ist ein Phänomen, das kennen wir aus der Geschichte, das kennen wir namentlich aus dem 18. Jahrhundert, aufklärerische Lesegesellschaften wäre ein großes Stichwort. Das heißt, man hat sich getroffen, um auch neue Ideen zu debattieren. Das kennen wir bis in die Gegenwart, es gibt nämlich häufig genug ja Freundeskreise, die sich zusammensetzen, die gemeinsam über Bücher der ganz unterschiedlichen Art, ob das Klassiker sind, Neuerscheinungen, einfache Unterhaltungsliteratur - man trifft sich, um sich auszutauschen. Dieses ganze jetzt ohne Bindung von Zeit und Raum ist ein Social Reading im Netz."
"Reading" als Fortsetzung des guten alten Lesezirkels mit anderen Mitteln.
Stephan Füssel: "Man kann sich jetzt, unabhängig von Zeit und Raum, mit Menschen im internationalen Bereich über Sprachgrenzen hinweg über Bücher austauschen, mit denen man nicht gerade zusammensitzt bei einer Plauschrunde immer mittwochs nachmittags um 17 Uhr. Und man kann dort Leseerfahrungen ganz anderer Art gewinnen."
Michael Schikowski: "E-Books sind keine Bücher, soziale Netzwerke sind keine sozialen Beziehungen. Soziale Beziehungen, pardon, entstehen zwischen Menschen vor Ort, an einem bestimmten Ort. Da gibt es eine soziale Beziehung. Im digitalen Raum: Das ist ein Transitraum. Das ist eine andere Art von Raum. Das hat immer was damit zu tun, es ist aber eben nicht identisch."
Welche anderen, sozialen Räume sich da auftun, fangen wir erst langsam an zu begreifen - während wir uns allerdings schon fast selbstverständlich in ihnen bewegen. Wenn sich die Form des Redens über das Gelesene verändert, verändert sich nicht auch das Lesen selbst?
Aus: Thomas Hettche, Die Notwendigkeit des Buches: "Um Marcel Proust oder David Foster Wallace in ihre Welt zu folgen, kostet Mühen der Konzentration, des Verständnisses, der Dauer. Ich glaube, wir verlieren die Fähigkeit dazu, und ich halte das für eine furchtbare Entwicklung. Und mir missfällt der Unwille im Netz, den Verlust überhaupt bemerken zu wollen."
Auf den Unterschied zwischen Realem und Virtuellem pocht ein Autor, der zu den Pionieren der Internetliteratur zählte: Thomas Hettche. 1999 gab Hettche die Online-Anthologie "Null" heraus. Von den Versprechungen des Internets ist für ihn jedoch - zumindest in literarischer Hinsicht - nicht allzu viel übrig geblieben. In dem Aufsatz "Die Notwendigkeit des Buches" schreibt Thomas Hettche weiter:
Aus: Thomas Hettche, Die Notwendigkeit des Buches: "Wenn die Debatte nicht länger ideologisch geführt werden soll, gehört zur Begeisterung für das, was wir an Möglichkeiten im Netz gewinnen, die Anerkennung dessen, was wir verlieren, wenn mit dem Geschäftsmodell Buch auch die Literatur als Ort verschwindet, an dem ein Schriftsteller und ein Leser sich nicht bloggend und twitternd treffen, sondern tatsächlich und unüberwachbar in der Imagination. Und allzu viele utopische Räume hat diese Welt nicht zu bieten."
Michael Schikowski: "Das Wissen über Bücher, der Umgang mit Büchern fällt nicht vom Himmel. Der wird geübt, schlicht und ergreifend geübt. Das lange Sitzen, das lange Lesen, das lange Stillhalten, die Innerlichkeit, das wird eingeübt. Irgendwann um 1800 hat man damit angefangen, die Übung. Da wurde das kultiviert, da wurde am Tisch vorgelesen, und dann saß man still und hörte zu und amüsierte sich über Charles Dickens oder was auch immer. Diese Übung geht verloren, und dann muss man kein Prophet sein, um festzustellen: Naja, dann geht noch mehr verloren. Was genau, wird man dann sehen."
Jeder mediale Umbruch hat die Angst vor dem Verlust tradierter Überlieferungsformen mitgebracht - das war so, als Gutenberg den Buchdruck erfand, als die Fotografie und der Film aufkamen, das Radio und Fernsehen. Mit den technischen Neuerungen ändert sich aber nicht nur die Rezeption, sondern auch die Produktion. Jüngere Autoren, Genreschriftsteller und digital natives lassen sich verstärkt auf das neue Medium ein. Karen Riefflin ist eine von ihnen:
"ROMMS!, wurde die Heckklappe des Umzugslaster zugeknallt...
Es ist so weit. Lilli ist in London angekommen. Wenn ihr entscheiden wollt, was sie in ihrem neuen Zuhause erlebt, ab sofort könnt ihr den Roman runterladen."
Es ist so weit. Lilli ist in London angekommen. Wenn ihr entscheiden wollt, was sie in ihrem neuen Zuhause erlebt, ab sofort könnt ihr den Roman runterladen."
Ein Facebook-Eintrag von Karen Riefflin zu ihrem E-Book "Ehrlich? Gefährlich. Der Thriller deiner Entscheidungen", das sie bei Neobooks veröffentlicht hat - einer Internetplattform des Verlags Dromer Knaur. Die Unterhaltungsliteratur sucht für ein Massenpublikum neue Formen: "Roman 2.0" nennt Karin Riefflin ihr Buch.
Dialog mit dem Autor
Karen Riefflin: "Ich hatte mir auch vorher, bevor das alles losging, Lovelybooks nicht gekannt. Ich hab mich dann ein bisschen schlau gemacht, hab mich da eingeloggt und mich registriert und mir das ein bisschen angeguckt."
Karen Riefflin, die eigentlich Drehbücher für Fernseh-Soaps schreibt, sucht den Kontakt zum Leser:
Karen Riefflin: "Und tatsächlich, dieser Dialog mit dem Autor ist halt ein Attribut, das diese Seite ausmacht, und das gilt auch für ganz normale Bücher. Und auch da gibt es immer die Rubrik: Fragen an die Autorin. Und ich war sehr gespannt, weil ich auch dachte: Internet ist ja immer so eine Sache, alle sind anonym, da weiß man, dass manchmal auch ganz böse Dinge passieren, wo man so denkt, ganz ehrlich, das würde niemand einem anderen Menschen so ins Gesicht sagen, wenn er nicht anonym im Internet unterwegs wäre. Ich finde aber, dass der Ton sehr angenehm ist, dass die Fragen sehr konstruktiv sind und dass es eigentlich ein ganz toller Dialog ist."
Lesen wird zu einem Mitmachspiel.
"Kann Lilli Simon davon überzeugen aus Lilac Village wegzuziehen?
Wenn du glaubst, sie schafft es, lies Kapitel 19
Wenn du denkst, sie schafft es nicht, lies Kapitel 20"
Karen Riefflin: "(…) der Leser kann mitentscheiden, wie sich der Plot entwickelt. Es gibt nicht an jedem Kapitelende, aber an einigen Entscheidungen, die man als Leser trifft. Und je nachdem, wie man sich entscheidet, entwickelt sich die Handlung in ganz unterschiedliche Richtungen."
Zum Lesespiel gehört auch, dass man den Teilnehmern noch weitere Angebote macht:Karen Riefflin hat die Fotos von den Schauplätzen der Story bei Facebook gepostet. Die Wohnung der Hauptfigur, Cafés, die sie mag, Shops, in denen sie einkauft.
So genannte Enhanced E-Books, also: erweiterte E-Books, die man auf Tablets lesen kann, integrieren solche technischen Spielereien: Fotografien, Filme, Grafiken oder Landkarten lassen sich aufrufen, ergänzen die Geschichte oder vertiefen bestimmte Themen in Sachbüchern. Und auch der Autor selbst ist online verfügbar.
Karen Riefflin: "Es gibt eine Leserunde auf Lovelybooks.de, wo ich dran teilnehme und wo die Leser mir Fragen stellen, wo die Leser auch kommentieren, warum sie bestimmte Entscheidungen treffen, und das ist ganz spannend, in Dialog zu treten mit den Lesern, ich finde es ganz toll."
Thomas Hettche wehrt sich gegen solche Imperative der steten Verfügbarkeit. In seinem Text "Die Notwendigkeit des Buches" nimmt er eine klare Gegenposition ein.
Aus: Thomas Hettche, Die Notwendigkeit des Buches: "Zur Verdeutlichung, um welche Veränderungen es aus Autorensicht geht, erwähne ich die Forderung, die immer einmal wieder gestellt wird, dass nämlich Autoren endlich mehr bloggen und twittern sollen, um sich der neuen digitalen Wirklichkeit zu stellen. Dahinter verbirgt sich ein Missverständnis, das die Debatte aber im Kern berührt. Es besteht darin, dass Teile der Netzöffentlichkeit meinen, Schriftstellerei habe etwas mit der Lust am Diskurs zu tun, weshalb man denen, die sich an dem im weitesten Sinne kulturellen Gespräch im Netz nicht beteiligen, mit Unverständnis, ja mit Aggressivität angesichts scheinbarer Verweigerung begegnet. Dabei ist die Annahme, für literarische Autoren habe der öffentliche Diskurs zentral etwas mit ihrer Arbeit zu tun, irrig. Aber sie ist bezeichnend für den blinden Fleck jener digitalen Öffentlichkeit, die jetzt über Literatur diskutiert."
Die Leser arbeiten mit
Klar ist, dass Verlage Interesse an dem gesteigerten Mitteilungsbedürfnis der Leser haben. Auch sie, die bislang unangefochten das Nadelöhr waren, durch das Autoren hindurchschlüpfen mussten, um ihre Leser zu finden, müssen sich mit der digitalen Revolution auseinandersetzen. Neue Strategien werden erdacht, um den Status als zentrale Kanalisierungs- und Vertriebsinstanz nicht zu verlieren. Bei großen Häusern sprießen Internetseiten, die als Selfpublishing- und Akquise-Plattformen dienen - und die den Leser zuweilen sogar einbinden in die Lektoratsarbeit. Neobooks heißt das entsprechende, 2010 gegründete Portal des Droemer Knaur-Verlags; Eliane Wurzer ist als Lektorin dafür zuständig.
Eliane Wurzer: "Man reicht seine Manuskripte, wenn man bei Droemer-Knaur veröffentlicht werden möchte, über Neobooks ein und hat dann aber nicht nur die Chance, die Gelegenheit, dass da Lektoren drauf schauen, sondern auch, dass interessierte Leser drauf schauen und ihre Meinung schon im Vorfeld abgeben, wo man auch schon im Vorfeld sehr gut an seinen Texten arbeiten kann tatsächlich."
Die Verlage freuen sich über mitarbeitende Leser. Schreibprozesse werden offen gelegt, neue Trends anhand der eingehenden Posts früh erahnbar. Noch bevor ein Roman überhaupt ein Buch oder E-Book ist, können Leser ein Feedback geben.
Eliane Wurzer: "Und manche sind da echt sehr sehr ausführlich, es gibt da wirklich so fünfseitige Rezensionen, wo dann auch steht, auf Seite zehn ist der Satz zu lang und auf Seite 20 fehlt ein Komma. Also, es ist wirklich erstaunlich, wie intensiv sich die Leute auch mit Texten auseinandersetzen."
Der Autor liefert eine grandiose Eröffnungssequenz, die diese Familiengeschichte ins Rollen bringt. Es sind ungewöhnliche Figuren, aus deren subjektiver Perspektive er die eng miteinander verstrickten Leben erzählt. Seine Protagonisten sind dabei nur mit sich selbst beschäftigt. Es ist ganz ausgezeichnet, wie der Autor sich frei macht von den Zwängen konventionellen Erzählens. Wie er sich ganz einlässt auf seine Figuren und trotzdem den Kreis mit leichter Hand schließt. Das Pathos allerdings ist an mancher Stelle etwas zu heftig, da müsste man sprachlich noch etwas abrüsten - man könnte beispielsweise etliche Adjektive streichen, gleich auf Seite sieben müsste man damit anfangen, wenn der Autor mit den Begriffen "schön" und "bezaubernd" nur so um sich wirft …
Eliane Wurzer: "Es gibt jedes Vierteljahr eine Top Ten, die sich aus den Lesermeinungen zusammenstellt. Und diese Top Ten wandert ins Lektorat, und alle Leute, die auf dieser Top Ten sind, bekommen auch ein qualifiziertes Gutachten zu ihren Texten aus dem Lektorat."
Die Verlage profitieren vom Geschmack des Lesers, von seiner Intuition und seinen Lektürepräferenzen. Und freilich auch von seiner Unbedarftheit beim Entäußern von Daten.
Stephan Füssel: "Man wird eben auch gelesen, wenn man liest, und wenn man diese Texte über bestimmte Programme liest. Die kann man ausschalten. Insofern wäre eine Sicherung immer gegeben, wenn man sie aber über Programme liest, wird man mitgelesen. Und dann gibt es zwei, drei Dinge. Das eine ist, sie können dann mit einem Autor, einer Autorin in Kontakt treten. Auch dieses erfolgt, mehrfach werden Möglichkeiten dazu gegeben, dass der Autor eine Rückkopplung gibt. Die zweite Möglichkeit ist, dass der Verlag eine Möglichkeit sieht, bestimmte Tendenzen dieses Buches aufzunehmen und umzuschreiben."
Maßgeschneiderte Bücher
Deutsche Verlage stecken in dieser Hinsicht noch in den Kinderschuhen. Die Vorboten einer neuen Entwicklung aber kann man schon erkennen. Coliloquy etwa, ein kleines, in Palo Alto, Kalifornien, angesiedeltes Start-Up-Unternehmen, wertet für Amazon Leser-Daten aus. Sie werden an den Autor weitergegeben, der auf die Wünsche eingehen kann: Wie geht es mit dem Helden weiter, welche Rolle sollte auf den nächsten Seiten eine bestimmte Nebenfigur spielen, wäre es nicht besser, die Protagonisten würden statt nach Alaska lieber nach Rom reisen, der Kulisse wegen?
Maßgeschneiderte Bücher also, vielleicht sogar vorprogrammierte Bestseller? Auch bei deutschen Verlagen denkt man darüber nach, was man mit differenzierten Leserdaten so alles anfangen könnte.
Michael Döschner: "Da gäbe es theoretisch viele Möglichkeiten, die wir praktisch noch nicht so ausleben können, wie wir das würden."
Michael Döschner Verlagsleiter E-Book, von Droemer Knaur:
"Also, theoretisch wäre ja denkbar, dass man in einem E-Book zum Beispiel gewisse Stoppmarken hat und weiß, der liest jetzt nur bis zum dritten Kapitel, und was ist denn da passiert, dass die Leser da einfach abbrechen. Praktisch ist es eben nicht so, dass wir das mitscannen und die Daten dazu sammeln."
Der gläserne Leser
Big Data, der transparente Internetnutzer, die Ausspähung der Privatsphäre - das ganze Dilemma, das sich seit dem NSA-Skandal selbst den größten Internet-Aficionados offenbart hat, zeigt sich auch im Bereich des digitalen Lesens.
Anders als in den USA sind die Datenschutzbestimmungen in Deutschland sehr viel strenger. Große amerikanische Anbieter von E-Book-Readern wie Amazon aber scannen selbstverständlich Nutzerdaten. Die amerikanische Bürgerrechtsorganisation EFF hat bereits vor vier Jahren Listen veröffentlicht, welches Unternehmen wie mit den Kundendaten umgeht - und gibt in einem eigenen Guide Tipps, wie man wiederum als Leser damit umgehen kann. Ist der "gläserne Leser" nur düstere Zukunftsvision oder ein vorstellbares Szenario?
Stephan Füssel: "Das ist etwas, was wir als Leseforschung, die wir bisher auch immer in Verlagen hatten - seit 1954 werden in der Regel Büchern Postkarten beigelegt, wo man um eine Rückkoppelung bittet."
Stephan Füssel vom Institut für Buchwissenschaft, Mainz:
"Dieses ist jetzt eine Form der Rückkoppelung, die natürlich viel direkter ist. Was Sie ansprechen, ist sicherlich auch eine Gefahr. Und die Gefahr, die dort hintersteht, ist eben etwas, was in dem Überwachungsstaatsdenken, was uns ja nicht zuletzt durch die NSA-Affäre jetzt allen in die Glieder gefahren ist, natürlich auch die Möglichkeit mit sich bietet, festzustellen, wo jemand besondere Interessen hat, wo er länger verweilt etc. Das sind wieder Dinge, wo wir wieder als Leser bzw. wo wir alle als Nutzer der elektronischen Medien wachsam sein müssen."
Wolfgang Tischer: "Das ist natürlich ein unglaubliches Datenmaterial, was zum Beispiel Amazon hat, gewinnt vom Leser."
Wolfgang Tischer, Betreiber von Literaturcafé.de und Internetexperte:
"Angefangen im Shop, wo gesurft wird, wo sie genau analysieren können, welche Bücher hat er sich angeschaut, welche hat er sich nur in der Übersicht angeschaut. Welche hat er sich im Detail angeschaut? Von welchen Büchern hat sich der Leser die Leseprobe runtergeladen? Hat er die Leseprobe auf dem Gerät angeschaut, ja oder nein? Hat er nach der Leseprobe das Buch gekauft, ja oder Nein?"
Michael Schikowski: "Wir haben Snowden und Co. und niemand regt sich richtig auf. Es gibt viele, die darüber schreiben. (…) Es gibt auch eine Debatte darüber, gar keine Frage, auch in der deutschen Wirtschaft. Nur nicht in der Politik, und auch eigentlich nicht am Tresen, am Stammtisch. Warum nicht? Weil es so praktikabel ist. Es macht mir mein Leben so einfach. Was dahinter zentral drin steckt ideologisch, wird eben abgedrängt. Und die eher deduktive Analyse wäre tatsächlich diese Prinzipien mal … - also, was ist Digitalisierung als Prinzip. Und von diesem Prinzip her gedacht, müsste man sofort die Finger davon lassen."
Wolfgang Tischer: "Und dann ist natürlich immer eine Online-Verbindung während des Lesens. Und der Anbieter, das sind ja meistens die US-Konzerne, die sehen dann wirklich ganz genau, in welcher Zeit wurde das Buch gelesen, wurde es überhaupt ganz gelesen. Wurde der Anfang eher schleppend und der Schluss dann schneller gelesen? Wo hat er Markierungen gesetzt? Wo sind Anmerkungen? Und ganz am Schluss ist immer noch die Bewertung, wie fanden sie das Buch? Und dann kann ich den Kreislauf ziehen, kauft er gleich das nächste Buch des Autors und so weiter."
Michael Döschner: "Der Verlag will ja selten ein großes Werk herausbringen, das keiner liest. Also, das ist sozusagen noch nie der Anspruch des Verlags gewesen."
Michael Döschner, E-Verlagsleiter bei Droemer Knaur:
"In gewisser Weise war er schon immer ein Wirtschaftsunternehmen. Das wird jetzt nur noch etwas stärker visibler und transparenter, eigentlich auch für den Verlag. Und er kann natürlich auf die Bedürfnisse seiner Leser noch etwas gezielter eingehen als bisher."
Stephan Füssel: "Selbstverständlich reagieren Verlage darauf. Selbstverständlich reagieren Massenanbieter wie zum Beispiel Amazon und andere darauf, dass sie auf diesen Massengeschmack eingehen. Aber schauen sie mal auf die Bestseller der Gegenwart: Das sind in aller Regel Texte, die über 376 Seiten haben, 500, 600, gerade die historisch orientierten Werke der Gegenwart. An den Leserinnen und Lesern liegt es natürlich, dass sie sich nicht diesem Mainstreamgeschmack eben anschließen."
Wolfgang Tischer, Betreiber der Internetplattform Literaturcafé:
"Das ist eine unglaubliche Datenbasis und Datenmaterial. Mir ist noch nicht bekannt, dass es den Verlagen angeboten wird. Da sehe ich natürlich auch eine Einnahmequelle von Amazon, Apple und Google, wenn sie sagen, ihr kriegt hier jetzt Daten vom Datenverhalten eurer Leser. Ihr kriegt Daten, wie viele haben dieses Buch zu Ende gelesen? Wie viele haben es gekauft, und wie viele haben es gar nicht gelesen. Das wäre natürlich ein großartiger Fundus."
Privatheit des Lesens
Die Konzerne, die nach Monopolisierung und Zentralisierung streben, sammeln diese Daten. Was sie damit machen, lässt sich vermuten, aber kaum genau sagen. Journalistische Anfragen werden entweder grundlegend abgelehnt, oder man wird - wie die Autoren dieses Features - über Monate hinweg vertröstet. Die Kommunikationsstrategie ist, vorsichtig ausgedrückt, defensiv, zumindest wenn es um die Offenlegung der geschäftlichen Praktiken geht. Die Transparenz des Lesers hingegen wird als Errungenschaft und Kundenfreundlichkeit gefeiert. Digitalisierung wird - auch von den Usern - gerne uneingeschränkt mit Demokratisierung verwechselt. Dass man aber seine Privatsphäre schützen sollte, dürfte nicht erst seit dem NSA-Skandal deutlich geworden sein. Dazu gehört auch die Privatheit des Lesens. Wolfgang Tischer:
"Möchte ich in ein Buch eintauchen und nicht gestört werden, oder ist es mir gerade wichtig, einen Austausch zu finden mit anderen Lesern? (…) Und da ist es wichtig (…), dass ich da auch ganz klar differenzieren kann, dass ich nicht will, dass mir jemand verrät, wie es weitergeht, oder dass ich mich nur mit meinen Freunden in diesem Netzwerk austauschen kann, dass ich stufenweise selber regeln kann, wie viel Information von andern möchte ich denn über den Text haben. (…) Ich möchte nicht, wenn ich ein Buch lese, darüber reden. Und interpretieren. Ich möchte es erst mal lesen."
Die Intimität des Lesens geht vielleicht nicht verloren, solange ein Buch genügend Faszinationskraft ausübt. Aber doch wird sie durch zahlreiche Kommunikationsangebote zusehends gestört, aufgeweicht. Marguerite Duras sagte einmal, man könne nicht bei zwei Lichtern gleichzeitig lesen, dem Licht des Tages und dem Licht des Buches. "Man sollte bei elektrischem Licht lesen, den Raum im Dunkeln, und nur die Seite beleuchtet." Duras meinte die Einsamkeit des Leseakts im Lichtschein einer Nachttischlampe. Das elektrische Licht kommt heute vom Display, und aus einer einsamen Tätigkeit wird ein sozialer Akt. Die Vermessung des Lesers hat gerade erst begonnen.