Tefillin legen als tägliches Ritual
Ein Junge legt sich zum Morgengebet seine Tefillin an. (Symbolbild) © picture alliance / Associated Press / Heidi Levine
Mit Gebetsriemen Ruhe finden
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Schwarze Lederriemen mit schwarzen Kästchen: Jüdische Religiöse tragen die Tefillin um Arm und Kopf. Es ist ein alter religiöser Brauch, der auch heute noch praktiziert wird. Mittlerweile auch von Frauen.
Ruben Gerczikow pflegt Tag für Tag ein jahrtausendealtes Ritual: Der 24-jährige Berliner nimmt aus einem Säckchen zwei schwarze Lederriemen heraus, an denen kleine würfelförmige Kästchen befestigt sind. Gerczikow wickelt einen der Riemen, auch Arm-Tefillin genannt, um einen Arm und eine Hand. Den anderen Riemen, Kopf-Tefillin genannt, setzt er an der Stirn an und verknotet ihn am Hinterkopf. Dabei sagt er hebräische Segenssprüche auf.
"Ich vergleiche das eigentlich ganz gern mit Yoga. Was für viele andere Leute Yoga ist, um herunterzukommen, um in den Tag zu starten, das sind für mich die Minuten, während ich Tefillin anlege, weil ich dann mein Handy beiseite gelegt habe und ähnliches - also keine äußeren Ablenkungen, sondern wirklich ich und das Gebet."
Seit seinem 13. Lebensjahr legt der gebürtige Frankfurter Gebetsriemen. Dies hat er von seinem Religionslehrer gelernt, zur Vorbereitung auf seine Bar Mitzwa, die traditionelle Feier der religiösen Mündigkeit.
Besser nur im Privaten
So greift Gerczikow wochentags im Anschluss an das Zähneputzen zu den Tefillin und betet. Nach der Prozedur, die bei ihm fünf bis zehn Minuten dauert, fährt er zum Bundestag. Dort arbeitet Ruben als studentischer Mitarbeiter in einem Abgeordnetenbüro. Seine Kollegen wissen allerdings nichts von seinem Riemenritual.
"Ich versuche, es zu vermeiden, im öffentlichen Raum zu legen, weil es natürlich auch mit Blicken verbunden ist. Ich will nicht als exotisch dargestellt werden für das, was ich gerade mache."
Durch die Gebetsriemen spüre er eine besondere Verbindung mit den jüdischen Wurzeln, erklärt Ruben. Das Leder auf seiner Haut beruhige ihn. Anfangs war es für ihn gar nicht so einfach, die Tefillin in der vorgeschriebenen Reihenfolge an- und abzulegen, ohne dass sie sich verheddern.
"Wir kennen das alle beispielsweise mit den Kopfhörern, wenn man sie in die Tasche legt, dass sie dann verknoten. Ich finde, Kabelsalat trifft das ganz gut."
Tefillin für Kopf und Arm
Rabbiner Zsolt Balla steht in der Leipziger Synagoge und zeigte in einem Lehrvideo, einem Online-Giur, wie man Tefillin korrekt legt. Der Orthodoxe - schwarze Kippa, weißer Gebetsschal - hält die beiden an den Lederschnüren befestigten Kästchen in die Kamera, die Gebetskapseln. Sie enthalten Mini-Pergamentrollen mit Toraversen, etwa mit Moses‘ Gebot Tefillin anzulegen:
"Diese Worte sollen in deinem Herzen sein und du sollst sie als Zeichen auf deine Hand binden und sie sollen als Merkzeichen zwischen deinen Augen sein." Körper und Geist sollen also eins werden mit Gottes Wort. Der Rabbiner entkleidet seinen linken Arm und winkelt ihn so an, als wolle er seine Muskeln zeigen.
"Man legt den ‚Tefillin schel Yad‘, den Tefillin für die Arme, auf den obersten Punkt des Bizeps."
Der 42-Jährige wickelt nun sieben Mal die restliche Lederschnur um seinen Arm. Danach befestigt er die zweite Gebetskapsel mit Riemen am Kopf. Schließlich wickelt er die überhängenden Arm-Tefillin um seine linke Hand und dann noch mal um einzelne Finger.
"Die Arme bedeuten für uns die Taten und der Kopf bedeutet die Gedanken", erläutert der aus Ungarn stammende Geistliche im Interview.
"Sehr oft haben wir als Menschen Probleme, unsere Gedanken und unsere Taten synchron zu halten. Die Gebetsriemen repräsentieren für mich persönlich sehr stark diese Idee, dass ich versuchen muss, meine Gedanken und meine Taten synchron zu halten, konsequent zu sein, ein treuer Mensch zu sein."
Das tägliche Ritual hilft, Ruhe zu finden
Zsolt Balla denkt als Orthodoxer bei den Gebetsriemen weniger an Yoga als an die exakte Befolgung des Mitzwa Tefillin, des Gebots zum Riemenanlegen. Für den Seelsorger, der als sächsischer Landesrabbiner wie auch als Bundesmilitärrabbiner arbeitet, ist die immer wiederkehrende, morgendliche Prozedur auch ein religiöser Fixpunkt im turbulenten Alltag. Eine Stütze: "Alle diese Sachen bedeuten, dass wir trainieren müssen, dass wir nicht den Fokus verlieren."
Auch Annette Böckler legt Tefillin. Die 55-Jährige hat Evangelische Theologie und Judaistik studiert und ist anschließend zum Judentum konvertiert. Heute arbeitet sie als Judaistin an der Universität Mainz. Außerdem absolvierte sie eine Ausbildung zu Rabbinerin.
"Der Körper betet bei dem mit, was man auf dem Arm spürt. Aber auch bei den Bewegungen, die man macht, wo der ganze Körper Teil des Gebets ist."
Mit dem Göttlichen vereinen
Die liberale Jüdin betont, Kopf- und Armriemen lege man auf eine Weise, dass die Schnüre bzw. Knoten die Form der hebräischen Buchstaben Schin, Daled und Jod annehmen. Zusammen bildeten alle drei Buchstaben das Wort "Schaddai", Allmächtiger. Der Körper werde Wort. "Also es ist ein Schreibvorgang."
Ob Körper, Gebet, Alltagsanker oder Yogahilfe, die promovierte Theologin weiß, dass es historische Vorbilder gibt für die Riemen mit ihren kleinen Kästchen - und zwar aus der Ära der Römer, die bis ins 8. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung zurückreicht.
"Es gibt die Theorie, dass die Römer ihre Geldbörsen so auf den Arm getragen haben. Es ist spannend, dass wir sagen: In unseren Geldbörsen steht, du sollst den Ewigen lieben, du sollst Gott lieben von ganzem Herzen und von ganzer Seele. Statt Geld haben wir diese Worte – das ist ein Symbol. Die zweite Theorie ist, dass es Amulette gab, die man trug, und dass dann im Grunde ein Zeichen von Schutz ist und es daher wohl käme. In der Wissenschaft gibt es diese beiden Theorien, woher der Brauch kommt."
Nach orthodoxem Verständnis sollen eigentlich nur Männer Gebetsriemen legen. Rabbiner Zsolt Balla erklärt, Frauen seien vom Tefillingebot befreit, "weil sie eine stärkere spirituelle Verbindung haben. Das ist auch der Grund, warum die Frauen nach den jüdischen Gesetzen, nur einmal pro Tag verpflichtet sind zu beten. In einer viel freieren Form als die Männer. Weil sie schon eine natürliche Verbindung mit dem Göttlichen haben."
Diese Sichtweise geht unter anderem auf den einflussreichen deutschen Rabbiner Rav Samson Raphael Hirsch zurück, der im 19. Jahrhundert Frauen eine größere religiöse Inbrunst zugesprochen hat. Doch Annette Böckler hält dagegen. Wenn die jüdische Überlieferung den Frauen ein bestimmtes Gebot erlasse, bedeutet dies noch kein Verbot, Tefillin zu legen.
Männer dominieren das religiöse Feld
"Da zeigt sich an den Tefillin, dass sich die Machtstellung der Männer in der Diskussion immer wieder durchgesetzt hat." Nach Ansicht der künftigen Rabbinerin ist die jahrtausendealte Auslegungstradition der Tora männerdominiert:
"Wir sind heute genauso freie Partner in dieser Partnerschaft mit Gott wie jeder Mann. Da hat sich so viel getan in der Gesellschaft, dass die Religion da mitgehen muss."
Der orthodoxe Rabbiner Zsolt Balla beharrt hingegen auf den religiösen Gesetzen, genauer auf die aschkenasische, also osteuropäische Tradition. Juden sollten Gebetsriemen nur dann legen, wenn es unbedingt notwendig sei. Der Geistliche schlussfolgert: Da das Legen von Tefillin bei Frauen unnötig sei, dürften sie die Riemen überhaupt nicht legen.
"Das könnte eine Art spirituellen Schaden bringen. Deshalb ist die aschkenasische Tradition, zu versuchen diese Zeit zu minimieren, wenn wir Tefillin anhaben."
Keine offene Kritik an liberaler Praxis
Der Leipziger Geistliche geht allerdings nicht so weit, Juden oder Jüdinnen zu kritisieren, die historische Quellen neu interpretieren und die Gebetsriemen nach anderen Regeln legen. "Es ist nicht meine Aufgabe, anderen Menschen zu sagen, was sie machen sollten. Ich bin kein Polizist."