Teilhabe

"Idee der Gleichheit nicht auf Marxismus beschränkt"

Alain Badiou im Gespräch mit Britta Bürger |
Der französische Philosoph Alain Badiou plädiert angesichts der gegenwärtigen Krisen dafür, sich wieder auf die Grundidee des Kommunismus zu besinnen. Die offenkundige Ungleichheit in der Welt des Kapitalismus sei "krankhaft".
Britta Bürger: "Dieser Mann ist gefährlich: Er will den Umsturz, er will Revolutionen, keine Reformen, den Umsturz von oben, an- und herbeigeführt von einer Geisteselite." Das war im Sommer in der "Berliner Zeitung" über den französischen Philosophen Alain Badiou zu lesen, ein Mann, der den Kommunismus neu denken will. Nach dem Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus in Europa und dem ökonomischen Siegeszug des real existierenden Kapitalismus, da hätte man eigentlich annehmen müssen, dass der Kommunismus als Idee endgültig ausgedient habe.
Doch der Pariser Philosophieprofessor Badiou greift gerade in Zeiten der Finanz-, Wirtschafts- und Bankenkrise darauf zurück. Er empfiehlt der ohnmächtigen und sprachlosen europäischen Linken ein neues Vokabular. Aber ist das mehr als alter Wein in neuen Schläuchen? Wie kann ein 75-jähriger Meisterdenker nach den historischen Erfahrungen des 20. Jahrhunderts erneut den Kommunismus predigen? Alain Badiou wird uns darauf antworten.
Der französische Philosoph Alain Badiou ist angetreten, den Kommunismus neu zu denken – doch wie soll das nach den historischen Erfahrungen des 20. Jahrhunderts erneut möglich sein? Warum soll gerade dieses Ideengebäude geeignet sein, die linken Bewegungen in Europa stärker zu machen? Darüber habe ich mit Alain Badiou hier bei uns im Funkhaus sprechen können. Die Schulden- und Bankenkrise und die fatalen Auswirkungen der Sparpolitik haben viele Menschen in Griechenland, Spanien und Portugal in einen Zustand der Angst und Ohnmacht geführt. Ich habe Alain Badiou gefragt, warum die Protestbewegungen in diesen Krisenländern anscheinend nicht weiterkommen.
Alain Badiou: Die gegenwärtige Krise, von der wir sprechen, ist meiner Meinung nach nicht nur eine wirtschaftliche oder finanzielle Krise, sondern auch eine politische Krise, eine Krise des Subjekts, und ich meine, dass diese Aussage sowohl für diejenigen gilt, die jetzt diese Politik der ökonomischen Reformen und der Sparsamkeit befürworten, wie auch für diejenigen, die protestierend auf die Straße gehen. Beide Seiten sind zurzeit nicht imstande, eine in sich stimmige Strategie vorzulegen, wie man aus dieser Krise rauskommen kann und wie man zugleich auch den Bedürfnissen jener Rechnung tragen kann, die für sich eine Zukunft anstreben. Alle sind in dieser Krise befangen und es sieht oft so aus, als wollte man einfach nur dahin kommen, aus der Krise herauszukommen, um dann in den Zustand vor der Krise wieder zurückzugelangen.
Bürger: Es fehlt also etwas, auch in den Widerstandsbewegungen. Warum sehen Sie aber jetzt ausgerechnet in der Idee des Kommunismus das Allheilmittel? Hat der sich nicht durch die totalitären Regime des 20. Jahrhunderts, insbesondere durch den Stalinismus, wirklich diskreditiert?
"Ich betrachte den Kommunismus keineswegs als Allheilmittel"
Badiou: Zunächst muss ich sagen: Ich betrachte den Kommunismus keineswegs als Allheilmittel für alle Übel, sondern als einen notwendigen Beginn für etwas, was noch kommen muss, und um den Beginn richtig zu fassen, muss man sich über die Wörter verständigen. Das Wort Kommunismus nun stammt aus dem 19. Jahrhundert. Die Grundbedeutung war doch, dass man versuchte, unter diesem Titel die Bevölkerungen der Staaten zu emanzipieren, sie teilhaben zu lassen, sie zu befreien von der Unterjochung durch das Privateigentum, und vor allem, die Gesellschaften dem Gesetz des Profits zu entziehen. Nun sind im 20. Jahrhundert einige Versuche unternommen worden unter den sogenannten sozialistischen Staaten, eine derartige Vision zu verwirklichen. Wie wir wissen, sind diese in terroristische Staaten, in sterile Staaten gemündet. Und angesichts dieses Fehlschlages muss man sich tatsächlich zurückbesinnen auf das, was Kommunismus im Ursprung bedeutet. Man muss zurückgehen und versuchen, den Kommunismus mit einem wirklichen Gehalt zu erfüllen, ihn auch praktisch auszuführen. Es wäre aber ungerecht, den Kommunismus ein für alle Mal für disqualifiziert zu erklären. Den gesamten Kommunismus jetzt nur auf diese 70 Jahre der sogenannten sozialistischen Staaten zu reduzieren, ist eine Absurdität. Es ist genauso widersinnig wie, wenn man das Christentum auf die Inquisition reduzieren wollte.
Bürger: Wie aber sollten die Menschen heute Zugang zu diesem Ideengebäude bekommen? Wollen Sie die Menschen ernsthaft allesamt wieder zur Marx-Lektüre verpflichten?
Den "Grundgedanken der Gleichheit der Menschen" neu denken
Badiou: Nun, diese Idee der Gleichheit ist ja keineswegs auf den Marxismus oder auf Marx beschränkt, sie ist weit verbreitet, sie findet ja übrigens auch ihren konkreten Anhalt an der offenkundigen Ungleichheit, einer krankhaften Ungleichheit, die wir in unserer Welt heute vorfinden: Ein Prozent der Weltbevölkerung verfügt über 46 Prozent des verfügbaren Besitzes, während 50 Prozent der Weltbevölkerung im Grunde nichts besitzen. Das ist keine Welt, die eine gangbare Zukunft vor sich hat, und die Situation verschlechtert sich zusätzlich noch durch die Finanzkrise. Und deswegen haben sehr viele Menschen den Vorsatz, etwas anders zu machen – und dazu empfehle ich den Rückgang in den Ursprung des Kommunismus, der ja weit älter ist als Marx und auch nicht auf Marx beschränkt ist: Wir haben eine erste Ausprägung bereits im Ideal der Gleichheit bei der Französischen Revolution. Ich möchte also keineswegs alle Menschen zur Marx-Lektüre verdonnern.
Ich will nur sagen: Es gilt, diesen Grundgedanken der Gleichheit der Menschen unter den heutigen Bedingungen neu zu denken, und davon abgesehen: Marx zu lesen ist nicht verkehrt. Es ist aber so, dass er weder ein Prophet, noch eigentlich ein Weiser ist – nein, er ist ein Denker, der versucht hat, Hypothesen zu formulieren, um den Zustand der Zeit, in der er lebte, zu erklären. Und unsere Zeit, in der wir heute stehen, ist eben geprägt dadurch, dass eine winzige Schar letztlich das Heft in den Gesellschaften in der Hand hat, während die Mehrzahl der Menschen keinerlei Teilhabe hat und auch nicht eingreifen kann in die Entscheidungen, die getroffen werden, und von denen sie dann betroffen sind.
Bürger: Der französische Philosoph Alain Badiou ist zu Gast im Deutschlandradio Kultur, und er plädiert für eine Wiederentdeckung des Kommunismus. Dennoch müssen die Menschen ja an das, was Sie gerade beschrieben haben, auf irgendeine Weise herangeführt werden, es kommt nicht aus ihnen selbst. Dafür fordern Sie so eine Art Rhetorik des Protestes, positive Schlagworte. Was stellen Sie sich genau darunter vor? Wie könnte so eine neue Sprache gefunden werden, ohne dass man in alte Denk- und Verhaltensmuster zurückführt?
Wir brauchen "eine neue politische Sprache"
Badiou: Sie stellen da eine sehr schöne Frage, die auch wirklich in den Kern des Problems hineinführt. In der Tat: Ein Teil der gegenwärtigen politischen Krise ist im Grunde eine Krise der politischen Sprache, und zwar auf beiden Seiten. Die Sprache, in der sich die Demokratie etwa heute bewegt, ist doch weitgehend abgenutzt, diese Worte können nichts mehr bewegen, sie haben nicht mehr diese Triebkraft, diese Leidenschaft, die sie im 19. und 20. Jahrhundert hatten, denken wir an die nationalen Bewegungen, an die revolutionären Leidenschaften, das alles ist erschlafft und kann die Menschen nicht mehr vom Hocker reißen. Deshalb brauchen wir in der Tat in einer gemeinsamen Anstrengung so etwas, wie eine neue politische Sprache. Das kann aber nicht am grünen Tisch entwickelt werden, sondern das muss sich im Laufe des politischen Handelns entwickeln, in diesen Revolten, die eben im Laufe der Aktion mit Bedeutung gefüllt werden.
Bürger: Wenn wir uns die Entwicklung der Gesellschaft zum Beispiel noch mal in Griechenland genauer ansehen – das Bündnis der radikalen Linken Syriza wird dort in breiten Teilen der Bevölkerung immer erfolgreicher. Deren Protagonist Alexis Tsipras, der benutzt viele dieser Begriffe, die Sie gerade genannt haben, das wird ihm aber häufig als Populismus ausgelegt. Nach einer gestern veröffentlichten Umfrage steht Syriza derzeit tatsächlich auf Platz eins der Wählerumfrage in Griechenland, gefolgt von der regierenden Nea Dimokratia und den Faschisten auf Platz drei. Das heißt, die revolutionären Bewegungen sind für die Rechten genauso attraktiv wie für die Linken. Was läuft da falsch? Anscheinend ist der Grat, ob manche nach links oder nach rechts driften, ja sehr schmal.
Badiou: Die gegenwärtige Lage in Griechenland bietet in der Tat erhebliche Risiken. Was ich eben in Griechenland als so besorgniserregend empfinde, ist, dass die Linke nicht über das nötige Konzept verfügt, auch nicht die neue Sprache hat, um wirklich sich zu qualifizieren, die Verantwortung zu übernehmen oder die Situation wirklich zu gestalten. Das ist meiner Meinung nach die entscheidende Schwäche bei Syriza, bei der griechischen Linken, aber nicht nur bei der Linken in Griechenland, sondern überhaupt bei der extremen Linken weltweit. Die andere Gefahr liegt natürlich in dem Erstärken der Faschisten, die mit einer langen Tradition der Gewalttätigkeit und auch mit ganz unterschiedlichen Organisationsformen in Griechenland ja ebenfalls stark sind. Wie nun die griechische Lage wieder ins Lot zu bringen ist, das ist ganz sicherlich eine Frage, die den langen Atem erfordert. In welche neue Formen das münden kann, das wird abzuwarten sein, es ist jedenfalls noch nicht entschieden.
Bürger: Sie suchen, Monsieur Badiou, ja immer wieder nach Verbindungen zwischen Politik und Philosophie. Folgen Sie dabei dem antiken Philosophen Platon, nach dessen Staatsverständnis die Philosophen die Führerschaft übernehmen sollten?
Badiou: Zunächst muss ich sagen, dass ich mit Platon nicht übereinstimme, insofern, als ich nicht glaube, dass der Philosoph eine besondere Berufung habe, die Macht auszuüben. Ich glaube demgegenüber, dass die Philosophie durchaus befugt ist, die in einer bestimmten Situation vorhandenen Meinungen und Bedingungen im Bereich der Politik zu beurteilen, sie auszuwerten, unterschiedliche Konzepte anzubieten. Und so vertrete ich in diesem heutigen Zusammenhang eben die Meinung, dass man angesichts der jetzigen Lage das Wort Kommunismus wiederbeleben und wieder in Umlauf bringen muss. Welchen Weg man dann einschlägt, das hängt nicht vom Philosophen ab, sondern von den historischen Bedingungen und nicht zuletzt auch von den aktiven, von den militanten. Und im Übrigen erhebe ich keinerlei Anspruch darauf, den Posten eines Philosophenkönigs im platonischen Sinne zu übernehmen.
Bürger: Der französische Philosoph Alain Badiou, er will den Kommunismus neu denken. Uns hat er Einblick in sein Gedankengebäude gewährt. Herzlichen Dank, Monsieur Badiou, für das Gespräch, merci beaucoup pour votre visite!
Badiou: Ich danke Ihnen, es war wirklich ein bedeutendes und auch sehr aufschlussreiches Gespräch!
Bürger: Und ich danke auch Johannes Hampel für die bedeutende und tolle Übersetzung! Das aktuelle Buch von Alain Badiou ist im Passagen Verlag erschienen, "Philosophie und die Idee des Kommunismus: Alain Badiou im Gespräch mit Peter Engelmann".
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Den Kommunismus neu denken - Originalfassung
Mehr zum Thema