Tektonische Spannungen am Bildschirm

Von Thomas Gith |
Das Erdbeben in Haiti, kurz darauf eines in Chile, jetzt in der Osttürkei: Immer wieder kommt es zu verheerenden Katastrophen wegen Erdbewegungen. Forscher entwickeln Computersimulationen, die die Risiken minimieren helfen sollen.
Immer wieder kommt es durch schwere Erdbeben zu verheerenden Katastrophen. Oftmals sind zehn- oder sogar hunderttausende Tote zu beklagen: 1999 starben in der Westtürkei fast 20.000 Männer, Frauen und Kinder; infolge des Tsunamis vor Sumatra waren es Ende 2004 sogar 220.000 Tote. Vor rund zwei Jahren erzitterte dann die Erde im Südwesten Chinas - etwa 70.000 Menschen kamen ums Leben. Geophysiker entwickeln daher Methoden, um Erdbebenrisiken zu analysieren: Am Computer simulieren sie die möglichen Folgen der Beben - um die Menschen in den betroffenen Regionen zu warnen.

Für Geophysiker wie Professor Jochen Zschau vom Geoforschungszentrum Potsdam liest sich die Erde wie ein offenes Buch: Dank zahlreicher Messdaten kann er sagen, wo schwere Erdbeben zu erwarten sind. Auch das Haiti-Beben ist in eine bekannte Gefahrenzone gefallen. Der Grund: An den tektonischen Platten hatten sich massive Spannungen gebildet.

Jochen Zschau: "In Haiti war das letzte große Beben genau 259 Jahre her. An der Verwerfung waren GPS-Messungen gemacht worden. Man wusste, dass sie sich verschiebt mit acht Millimetern im Jahr. Das bedeutet in 250 Jahren ungefähr eine Verschiebung von zwei Metern. Diese zwei Meter, die müssen sich in einem Ruck wieder entlasten, und zwei Meter bedeuten ungefähr eine Magnitude von 7,2. Das heißt, man hat schon ungefähr gewusst, hier kann ein Beben der Magnitude 7,2 auftreten."

Die Geophysiker können zwar ungefähr voraussagen, wo es zu einem Erdbeben kommt und wie schwer es sein wird. Allein den genauen Zeitpunkt können sie nicht bestimmen! In Haiti hätte die Erde auch zehn oder sogar zwanzig Jahre später erzittern können – dann allerdings mit einer noch zerstörerischen Wucht.

Dass solche Prognosen möglich sind, verdanken die Forscher geomechanischen Computersimulationen. Die lassen sich anhand hochsensibler Messdaten entwickeln, sagt Doktor Oliver Heidbach vom Geoforschungszentrum Potsdam.

"Die geomechanischen Modelle tragen dazu bei, den Ort und die Stärke des Bebens zu charakterisieren. Wir verwenden dabei als Eingangsdaten im Wesentlichen GPS-Daten, mit denen wir millimetergenau die Plattenbewegungen in der Region charakterisieren können, die dann das Modell antreiben und somit den Ort und die Stärke des zukünftigen Bebens einigermaßen charakterisieren."

Zahlreiche Satelliten kartieren die gesamte Erdoberfläche. In ihren Computern fügen die Wissenschaftler die Daten zu entsprechenden Simulationen zusammen. Geophysiker Oliver Heidbach hat das für die Region Istanbul getan. Er sitzt vor einem großen Bildschirm und zeigt auf eine animierte Hügellandschaft, die von tiefen Furchen durchzogen ist.

"Ja, was Sie hier in dem Bild jetzt sehen, ist die Region von Istanbul, Sie sehen in der Mitte die graue Linie, das ist die Trennfläche zwischen den beiden tektonischen Platten. Im Süden bewegt sich die anatolische Platte mit etwa 13 bis 18 Millimeter pro Jahr relativ zum nördlichen Teil der eurasischen Platte. Und genau dazwischen liegt diese seismische Lücke, die etwa 20 Kilometer entfernt ist von Istanbul, hier oben am Rand, in der Nähe des Bosporus."

Istanbul könnte also eine Katastrophe bevorstehen: Ein schweres Erdbeben, das tausende Häuser zerstören und vermutlich viele Menschen das Leben kosten wird. Professor Jochen Zschau:

"Die Wahrscheinlichkeit für den Eintritt eines großen Erdbebenereignisses in Istanbul ist ausgesprochen groß und wird von den Wissenschaftlern angegeben mit etwa 60 Prozent Wahrscheinlichkeit, dass in den nächsten drei Jahrzehnten ein Ereignis größer 7 in der Region stattfindet."

Und Istanbul ist bei Weitem nicht die einzige Stadt, für die solche Computermodelle vorliegen. Die Geophysiker können dank ihrer Forschung geradezu erschreckend genau voraussagen, wo sich tektonische Spannungen aufbauen – und wo es zu schweren Erdbeben kommen kann. Oliver Heidbach blickt voraus.

"Weitere Orte und große Städte, die von Beben gefährdet sind in der nahen Zukunft, sind mit Sicherheit Katmandu in Nepal, Bangladesh als Gesamtgebiet, der Himalaja südlich, wo große indische Städte sind, Seattle, Vancouver, San Francisco, Los Angeles, Tokio, Kobe. Also es gibt eine ganze Reihe von großen Städten, die in Zukunft von Erdbeben betroffen sein werden."

Auch für sie gilt, was bereits für Istanbul beklemmende Wahrheit ist: Die Menschen leben mit der permanenten Gefahr – die Erde wird sich spontan und plötzlich entladen. Wann genau es soweit sein wird, weiß niemand. Auch die besten Simulationen stoßen hier an ihre Grenzen. Denn die Geophysiker können nur die Bewegungen der Erdoberfläche analysieren – was sich in den tiefer liegenden Gesteinsschichten abspielt, wissen sie nicht, sagt Oliver Heidbach.

"Die Grenzen der Computersimulation liegen im Wesentlichen in den physikalischen Eigenschaften des Untergrundes, die wir nicht kennen. Wir können ja kaum in die Tiefe bohren von 10, 15 Kilometer Tiefe, wo die Beben stattfinden. Im Sinne einer Vorhersage werden wir den Zeitfaktor nicht festlegen können mit den geomechanischen Modellen, weil uns eben diese Daten fehlen, das heißt, da sind wir limitiert."

Die Erde entlädt sich bei Beben tief in ihrem Inneren. Bewegungen an der Oberfläche ermöglichen zumindest Prognosen. Für die betroffenen Regionen heißt das: Katastrophenpläne müssen erstellt, Häuser erdbebensicher gebaut werden. Umgesetzt wird das bisher allerdings fast nur in entwickelten Ländern wie Japan und den USA. Ändert sich daran nichts, wird es in den anderen Regionen fast zwangsläufig erneut zerstörte Städte und Tote geben: trotz der Voraussaugen, die sich schon jetzt aus den Computersimulationen ableiten lassen.
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