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Telefonseelsorge in Krisenzeiten
Während Menschen am Hörer früher individuelle Nöte thematisiert haben, geht es nun um Krisen, die auch die Seelsorger selbst betreffen. © Getty Images / Bernhard Lang
Wenn die Kraft nicht mehr ausreicht
07:25 Minuten
Ängste und Sorgen aufgrund des Ukraine-Kriegs, Inflation, Pandemie oder Klimakrise machen auch vor Telefon-Seelsorgerinnen und -seelsorgern nicht halt. Gleichzeitig wird ihre Arbeit mehr denn je benötigt. Einige halten die Belastung nicht mehr aus.
„Ich muss an eine Mitarbeiterin denken, die sehr belastet war durch Coronaerkrankungen in der eigenen Familie. Die hat sich beurlauben lassen, weil es für sie sehr schwer war, mit Menschen am Telefon zu sprechen, die mit Ängsten durch die Pandemie zu tun hatten“, erzählt eine Mitarbeiterin der Telefonseelsorge mit Blick auf die derzeitige Situation. Denn Coronapandemie, Ukraine-Krieg und Inflation machen auch den Telefonseelsorgerinnen und -Seelsorgern zu schaffen.
Mehr als 100 regionale Telefonseelsorge-Stellen gibt es derzeit in Deutschland, mit fast 300 festangestellten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern und über 7.700 ausgebildeten Ehrenamtlichen. Rund um die Uhr nehmen sie Anrufe oder Emails oder Chat-Anfragen entgegen – an sieben Tagen in der Woche, kostenfrei und anonym. Wer sich über die bundesweite Nummer meldet, wird weitergeleitet zu einer Stelle in der Nähe, um, wenn es erforderlich ist, Informationen zu Unterstützungsangeboten in der eigenen Region zu erhalten.
Nicht alle Anrufe können angenommen werden
Der Gesprächsbedarf sei seit Jahren deutlich höher, als abgedeckt werde könne, sagt Gunhild Vestner. Sie leitet die Telefonseelsorge in Recklinghausen in Nordrhein-Westfalen (NRW), berät selbst auch Anrufende – und ist stellvertretende Vorsitzende der Telefonseelsorge Deutschland. „Mehr Menschen versuchen, uns zu erreichen als wir tatsächlich Gespräch anbieten können. Wir leisten, was wir leisten können: Eine Million Seelsorge und Beratungsgespräche waren das im letzten Jahr.“ Mehr könnten sie mit der zur Verfügung stehenden Struktur aber nicht leisten.
Aus Vestners Sicht brauche es deswegen „gesellschaftlich noch weitere Ressourcen“, um der Not begegnen zu können. Sobald ihre Telefonseelsorge mehr Personal einstelle, stiegen auch die Anrufzahlen.
Gespräch über die Krisen
Viele der regionalen Telefonseelsorge-Stellen nehmen wahr: Während Menschen am Hörer früher persönliche, individuelle Nöte und Belastungen thematisiert haben, geht es nun um Krisen, die auch die Seelsorger selbst betreffen.
„Wir sind ja normale Menschen“, sagt Susanne Pfennig-Wiesenfeldt. Sie koordiniert die Göttinger Telefon- und Chatseelsorge. Beides wird stark nachgefragt. „Ich habe bei Corona das Gefühl gehabt, dass so eine Corona-Müdigkeit im Laufe der Zeit entstanden ist. Erst dachten wir, vielleicht dauert es ein Jahr. Dann war es wieder ein Jahr. Es hat nicht aufgehört.“
Wut und Hilflosigkeit
Häufige Themen neben der Coronapandemie: der Krieg in der Ukraine, Geldsorgen und Existenzängste, die Klimakrise. Das beobachten viele Telefonseelsorge-Stellen in Deutschland. Auch Nicole Hackel, die Leiterin der Telefonseelsorge Oberlausitz mit Büros in Bautzen und Görlitz. Mit ihren Kolleginnen und Kollegen tauscht sie sich in Supervisionsrunden auch über die Themen der Telefongespräche aus, beispielsweise über den Ukraine-Krieg. „Als der Krieg begonnen hat, war Betroffenheit im großen Maße da, aber auch unterschiedliche Meinungen. Wenn da jemand dabei ist, der als Kind selbst noch den Krieg erlebt hat in Deutschland, dann ist das schon etwas Besonderes, und wenn 90 Leute dabei sind, gibt es eben auch unterschiedliche Meinungen.“
Eine Haltung zu politischen Themen entwickeln
Hinzu kommt: Bei manchen Anrufenden haben sich aufgrund der vielen Krisen Wut und Hilflosigkeit angestaut. Die brechen sich Bahn, wenn der Hörer abgenommen wird. Nun würden beispielsweise wieder Menschen anrufen, „die sich erneut von den Flüchtlingen überrollt fühlen, die das Gefühl haben, wir sind doch schon in einer prekären Situation“, erzählt etwa Susanne Raap. Sie leitet die Telefonseelsorge Kiel. „Das heißt, plötzlich bin ich als Seelsorgerin oder Seelsorger mittendrin in diesem Konflikt und muss eine Haltung dazu finden.“
Dann gehe es nicht nur darum, „die andere Wange hinzuhalten, aus einem vielleicht auch sehr vereinfachten christlichen Verständnis“, sondern in ein Gespräch hineinzufinden. „Das ist eine echte Herausforderung für viele, die am Telefon sitzen.“
Mitarbeitende spürbar dünnhäutiger
Eine einjährige Ausbildung, Gespräche, Supervision, Fortbildungen, gemeinsame Aktivitäten wie Weihnachts- und Sommerfeste oder Wanderungen – das hilft den Ehrenamtlichen im Seelsorge-Alltag. Und, wichtiger denn je: Selbstfürsorge. Das berichtet etwa Martina Rudolph-Zeller, die die Telefonseelsorge Stuttgart mit mehr als 100 Ehrenamtlichen leitet. „Die Krisen lösen bei allen Menschen etwas aus, auf unterschiedlichste Art und Weise. Das macht es auch nochmal zur Herausforderung, im Ehrenamt bei der Telefonseelsorge gut auf sich zu achten und zu gucken, dass die eigene innere Balance immer wieder stabil aufgebaut wird“, betont sie. Schließlich seien sie „im Kontakt mit Menschen, deren innere Balance gekippt ist, die mit viel Angst, Rückzug, Einsamkeit und auch mit Krisen zu tun hat“.
Aber: Im Rückblick auf die krisenbeladenen letzten zwei Jahre sind dennoch viele Mitarbeitende der Telefonseelsorge spürbar dünnhäutig geworden, sagt Gunhild Vestner, die stellvertretende Vorsitzende der Telefonseelsorge Deutschland. „Das erleben wir bei den Anrufenden, bei den Telefonseelsorgenden, bei den Supevisorinnen. Wir sind in diesen Zeiten anders mit den Grenzen unserer Kraft in Verbindung gekommen. Ich erlebe auch, dass die Kraft nicht mehr reicht, um noch für andere da zu sein.“ Zum Teil sei die ehrenamtliche Mitarbeiterschaft deswegen „richtig eingebrochen“.
Überdurchschnittlich viele Ehrenamtliche haben sich in den letzten Monaten aus der Mitarbeit verabschiedet. Beispielsweise bei der Telefonseelsorge in Recklinghausen gut 20 Prozent. Hinzu kommt: Ganz praktische negative Auswirkungen auf die Arbeit der Telefonseelsorge haben auch Inflation und erhöhte Energiekosten.
Kirche, Kommunen und Bund müssten die Mittel für die Telefonseelsorge aufstocken, wünscht sich Gunhild Vestner. Auch um Spenden wirbt sie. Denn die Stellen seien finanziell unterschiedlich ausgestattet. Für einige geringer bezahlte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sei es „schlichtweg zu erwarten, dass es auch richtig eng werden wird. Das ist unbefriedigend.“