Teppichimperium oder Zigaretten-Herstellung im Hinterhof

Von Gerald Beyrodt |
Alles, was mit dem Orient zusammenhing, war am Ende des 19. Jahrhundert in Mode. Natürlich waren auch Orientteppiche um die Jahrhundertwende der letzte Schrei. Sie bedeckten nicht nur Fußböden, sondern zierten auch Sofas: etwa die berühmte Couch von Sigmund Freud. Viele türkische Juden kamen um die Jahrhundertwende nach Deutschland, um mit Teppichen und anderen Orientwaren zu handeln.
17 Jahre war er jung, als er das erste Mal nach Berlin kam: Nissim Zacouto, Sohn eines Teppichhändlers aus Konstantinopel. Und er bemerkte: Die Deutschen waren begeistert von Orientteppichen. Jetzt reiste er häufig in die deutsche Hauptstadt und handelte mit den Teppichen seines Vaters. Schließlich siedelte er nach Berlin über, eröffnete eine Großhandlung, belieferte Wertheim ebenso mit Teppichen wie das KadeWe.

Der Handel brachte viele türkische Juden nach Deutschland. Neben Teppichen verkauften sie auch andere Orientgüter wie Tabak. Oder schlugen sich durch, indem sie Zigaretten herstellten, damals eine Handwerksarbeit in kleinen Familienbetrieben. Chana Schütz, die Projektleiterin der Ausstellung von "Vom Bosporus an die Spree":

"In jeder sozialen Gruppe gibt es immer sozusagen diejenigen, die erfolgreich sind. Und es sind diejenigen, die ihr Geld verdienen mit einfachen Tätigkeiten. Der Tabakhandel hatte natürlich auch was mit der Türkei zu tun, dass viele Juden in der Tabakproduktion tätig waren."

Die politischen und wirtschaftlichen Beziehungen zwischen dem Deutschen Reich und der neu gegründeten Türkei wurden Mitte der zwanziger Jahre intensiver. 1933 lebten auf dem Gebiet des Deutschen Reiches 1673 türkische Staatsangehörige. Rund die Hälfte von ihnen waren Juden. Die meisten türkischen Juden lebten in Berlin: mehr als 500 Menschen.

Sie brachten eigene Traditionen in die deutsche Hauptstadt, denn sie waren Sefarden - Juden, deren Vorfahren zur Zeit der Reconquista aus Spanien und Portugal vertrieben wurden und die sich auf ihrer Flucht oft im Osmanischen Reich ansiedelten.

1905 gründeten die Sefarden einen eigenen Gebetsverein unter Vorsitz eines Türken. Zwei Synagogen hatten sie. Ihr Gottesdienst muss fremd auf die anderen Juden gewirkt haben. Sie sangen andere Melodien und beteten ein fremdes Hebräisch. Sie waren zum Beispiel die Einzigen, die Schalom sagten. In den anderen Synagogen wurde aschkenasisches Hebräisch rezitiert. Hermann Simon ist Direktor des Centrum Judaicum und stammt selbst aus einer aschkenasischen Familie:

"Im Aschkenasischen sagt man Scholaum, das sagt ja nun heute gar keiner mehr, aber das sagte man. Oder Jaum Kippur - Jom Kippur. Oder shovuaus. Ich kenne das noch aus meiner Jugend, übrigens Ost wie West. Da gibt es dann einen Wechsel zum Sephardischen aufgrund natürlich des Entstehens des israelischen Staates."

Denn Israelis benutzen von Anfang an die sefardische Aussprache: Eine Woche heißt shavua und nicht shovuaus. Ein Tag heißt Jom und nicht Jaum. Heute hat sich die sephardische Aussprache in den meisten Synagogen weltweit durchgesetzt.

Am Anfang des 20. Jahrhunderts hatten die Sefarden in Berlin wenig mit dem Rest der jüdischen Gemeinde zu tun und blieben weitgehend unter sich. Hermann Simon, der selbst aus einer aschkenasischen Familie stammt:

"Ich neige dazu zu sagen, dass sie sehr innerhalb der Gemeinschaft zusammenhielten. Kritiker sagen, sie hielten sich für etwas besseres und ließen keinen anderen ran. Also sephardisch war so ein bisschen, auch wenn ich mich an die Erzählungen meiner Eltern erinnere, in diesem alten Berlin, war das so ein bisschen jüdischer Adel."


1937 widmete das Berliner Jüdische Museum einem Sepharden eine Ausstellung: dem Religionsphilosophen Don Yizchak Abravanel. Zu sehen war auch die Thorarolle des sephardischen Religionsvereins. Hermann Simon:

"Der war aber insofern interessant, als er bestickt war mit dem Auge Gottes, einem Dreieck im Strahlenkranz. Da würde man doch fast sagen: unüblich. Oder vielleicht vom Bildnisverbot betroffen. Mindestens glaube ich, dass das heute viele sagen würden. Aber dieser Mantel bestickt mit dem Auge Gottes hat Aufsehen erregt."

Das "Jüdische Gemeindeblatt Hamburg" schrieb, die Ausstellung erscheine wie "eine kleine Sefardeninsel inmitten der aschkenasischen Umwelt". Dass Aschkenasen einem Sefarden überhaupt eine Ausstellung widmeten, ist bemerkenswert. Unter dem Eindruck der nationalsozialistischen Bedrohung seien Juden unterschiedlicher Herkunft näher zusammengerückt, sagt Hermann Simon:

"Mindestens war diese Ausstellung der Versuch, das zu tun und ich glaub auch, dass das geglückt ist. Die nächste Ausstellung galt einem Großen der aschkenasischen Welt nämlich Akaiba Eger aus Posen. Ich glaube, dass dem eine konzeptionelle Idee zugrunde lag, nämlich einerseits sephardisch, andererseits aschkenasisch ein Gleichgewicht herzustellen, das denke ich schon."

Nissim Zacouto verlor 1938 die türkische Staatsbürgerschaft. Das ging vielen türkischen Juden in Deutschland so und bedeutete für die meisten das sichere Todesurteil. Nach Ansicht der Ausstellungsmacher stand die Maßnahme jedoch nicht in direktem Zusammenhang mit dem Nationalsozialismus, sondern hatte eher mit dem türkischen Nationalismus zu tun: Auch nicht-jüdische Türken, die im Ausland lebten, verloren oft ihre Pässe.

Nissim Zacouto wanderte nach Frankreich aus. Während der deutschen Besatzung versteckte er sich in einem Bauernhof in den Pyrenäen. Nach dem Krieg überlegte Zacouto durchaus, nach Berlin zurückzukehren. Doch als seine zahlreichen Wiedergutmachungsverfahren scheiterten, blieb er lieber in Frankreich. In Paris baute er erneut eine Teppichhandlung auf. 1987 ist er in der französischen Hauptstadt gestorben.


Service:

Vom Bosporus an die Spree. Türkische Juden in Berlin
Ausstellung im Centrum Juaicum bis zum 15.8.05.2010

Demnächst erscheint in der Reihe "Jüdische Miniaturen":
Christoph Kreutzmüller, Björn Weigel: Nissim Zacouto. (1892 - 1987) Jüdischer Wunderknabe und türkischer Teppichgroßhändler. 72 Seiten, Broschur. Hentrich&Hentrich 2020. 6,90 Euro