Gegen die Profis der Nächstenliebe
Am 02. Januar 1914 wurde Edmond Kaiser geboren, der Gründer des Kinderhilfswerks "Terre des Hommes". Ein unbequemer Anwalt der Schwächsten und Verletzlichsten: Um Kindern in Not zu helfen, griff er mitunter zu radikalen Mitteln.
"Die Leiden und Nöte der Welt kann man nicht von sich weisen. Man muss Feuer anzünden, etwas beginnen, das andere weiter führen. Es ist verboten, sich entmutigen zu lassen."
Als Edmond Kaiser das schreibt, ist aus dem französischen Journalisten längst ein unbeugsamer Kämpfer gegen die Not geworden. Der schmächtige Mann mit der hohen Stirn ist einer, der zupackt und so Tausenden Kindern das Leben rettet.
Mit dem Algerienkrieg fängt alles an. Erschüttert über das Leid der Kinder in französischen Internierungslagern, gründet Kaiser im November 1959 in seiner Schweizer Wahlheimat "Terre des Hommes": Schon kurz danach holt die kleine Bürgerinitiative die ersten algerischen Kinder zur medizinischen Versorgung in die Schweiz. Direkte Hilfe, ohne Bürokratie - das schwebt Kaiser vor:
"Wir sind kein Wohltätigkeitsverein. Und im Gegensatz zu anderen werden wir uns nicht an das Leid auf der Welt gewöhnen."
Die anderen – damit meint er die Kirchen und die großen Hilfsorganisationen: "Profis der Nächstenliebe" nennt er sie verächtlich. "Terre des Hommes" soll eine Bewegung sein. Der Name - Titel eines Romans des französischen Schriftstellers Antoine de Saint-Exupéry - steht für das, was Kaiser erreichen will: eine "Erde der Menschlichkeit".
Was Not und Elend bedeuten, lernt Edmond Kaiser früh: Geboren am 2. Januar 1914 in Paris als Kind einer jüdischen Familie, wächst er im Armenviertel Les Batignolles auf. Er ist vier, als sein Vater stirbt. Auf dem Klavier, das er erbt, entdeckt er seine Leidenschaft für Beethoven.
Die Schule verlässt er mit 14. Er kümmert sich um Clochards und Prostituierte, schreibt Gedichte und hält sich mit Aushilfsjobs über Wasser. Und er lernt, sich durchzubeißen: ob als Widerstandskämpfer gegen die NS-Besatzer oder später als Kriegsreporter für Schweizer Zeitungen. Doch an seine Grenzen stößt er viel öfter als "Terre des Hommes"-Chef, zum Beispiel bei der Hungersnot 1969 in Biafra.
"Es ist fürchterlich: wie ein endloses Freskenbild aus Toten und Sterbenden, aus Skeletten. In einem Lager, in dem seit einem Monat keine Hilfe mehr angekommen ist, sah ich eine Mutter mit ihrem toten Kind im Arm. Sie schrie wie ein Tier und konnte nicht verstehen, dass ihr Sohn tot sein soll."
"Zart mit den Zarten, hart gegen die Harten" – das ist Kaisers Grundprinzip. 1972 erzwingt er mit einem Hungerstreik, dass die Schweiz todgeweihte Kinder aus Bangladesch aufnimmt. Vehement setzt er sich für Adoptionen ein. Kritik kontert er mit der Frage: "Was ist besser? Die Müllkippe in Kalkutta oder die Liebe im Kantönle?" Sorge bereitet ihm allerdings, dass "Terre des Hommes" immer größer wird.
"Sobald eine große Organisation entsteht, ist alles verloren. Eines Tages werden wir 100-jähriges Bestehen feiern, Geschenke verteilen, aber alles wird vorbei sein. Deswegen muss Terre des Hommes ein Mosaik bleiben, so dynamisch und gerecht wie möglich."
1979 zieht sich Kaiser aus der Leitung von "Terre des Hommes" zurück. Er gründet "Sentinelles", eine neue Organisation, die sich dem Kampf gegen Kinderprostitution, Mädchenbeschneidung und Waffenhandel widmet. Als ihn Frankreich zum Ritter der Ehrenlegion machen will, lehnt er das brüsk ab. Kaiser will keine Lorbeeren, um sich darauf auszuruhen.
"Die eigentliche Revolution kommt erst. In diesem Leben bin ich noch geduldig. In meinem nächsten werde ich ganz anders auftreten."
Bis ins hohe Alter reist Edmond Kaiser durch die Elendsgebiete der Erde. Am 4. März 2000 stirbt er im Alter von 86 Jahren beim Besuch eines Waisenhauses in Indien.