Warum der Vergleich mit dem Islamischen Staat Unsinn ist
Vor 40 Jahren erlebte Deutschland einen Herbst voller Gewalt. Der damalige RAF-Terrorismus wird inzwischen mit dem Terrorismus des Islamischen Staates von heute verglichen. Für den Politikwissenschaftler Wolfgang Kraushaar ist das vor allem eines: "Quatsch".
Liane von Billerbeck: Der Herbst 1977, der gilt mit der Ermordung von Hanns Martin Schleyer und der Entführung der Lufthansa-Maschine Landshut als die schwerste Krise der Bundesrepublik. Der Deutsche Herbst, der endete ja mit der Todesnacht von Stammheim und dem Tod von Hanns Martin Schleyer.
Am 6. September trat im Kanzleramt erstmals der große politische Beraterkreis zusammen, später hieß er der große Krisenstab. Mitglieder waren die Vorsitzenden der im Bundestag vertretenen Parteien, die wichtigsten Minister und Ministerpräsidenten von Nordrhein-Westfalen, Bayern, Baden-Württemberg und Hamburg, denn in diesen vier Bundesländern saßen Terroristen im Gefängnis, die freigepresst werden sollten.
Das wissen wir. Vieles indes, was die RAF und vor allem deren sogenannte dritte Generation betrifft, wissen wir nicht. Aber der Begriff "Terrorismus", den man damals immer automatisch mit der RAF verband, den verwenden wir heute meist im Zusammenhang mit dem sogenannten IS. Und immer wieder wird behauptet, die RAF könnte vielleicht die Blaupause geliefert haben für den Terror des IS.
Das will ich jetzt wissen von einem der besten Kenner der Materie, dem Publizisten, Politikwissenschaftler Wolfgang Kraushaar von der Hamburger Stiftung zur Förderung der Wissenschaft und Kultur. Er hat sich seit vielen Jahren mit den Themen Proteste und Widerstand in der DDR und der Bundesrepublik befasst, und im Sommer ist sein Buch "Die blinden Flecken der RAF" erschienen. Schönen guten Morgen, Herr Kraushaar!
Wolfgang Kraushaar: Schönen guten Morgen, Frau von Billerbeck!
von Billerbeck: Wenn wir mal anfangen, diese Frage zu stellen, die RAF als Blaupause für den Terror des IS. Was wäre da so das Erste, was Ihnen einfällt? Stimmt das?
Kraushaar: Einfach nur, dass das Quatsch ist. Ich halte das schlicht und einfach für Quatsch. Nein. Es ist einfach so ...
von Billerbeck: Es wird ja trotzdem immer mal wieder behauptet.
Kraushaar: Ja. Es werden alle möglichen Dinge behauptet, und ich halte das für sehr leichtfertig, das zu tun. Denn die immensen Differenzen zwischen dem politisch begründeten Terrorismus der RAF der 70er- und 80er-Jahre und dem religiös verbrämten Terrorismus etwa des Islamischen Staats, die liegen eigentlich auf der Hand.
Immense Differenzen
Ich will nur die wichtigsten nennen, um das deutlich zu machen: Das Erste ist die Anzahl der Opfer. Diese numerische Dimension, die ist so extrem unterschiedlich, man muss sich das einfach mal vor Augen führen, ohne das damit verharmlosen zu wollen. Die RAF hat im Laufe ihrer 28-jährigen Geschichte 34 Menschenleben gekostet, während das, was sich unter islamischen Vorzeichen abgespielt hat nach "Nine Eleven", also seit dem 11. September 2001, Hunderttausenden von Menschen das Leben gekostet hat. Das ist eine unvorstellbar unterschiedliche Dimension.
Das Zweite ist die Beliebigkeit der Opfer. Die RAF hat ihre Anschläge verübt in der Regel auf Exponenten bestimmter Machteliten, und dann noch natürlich – was heißt natürlich, dann naheliegenderweise auch auf deren Begleiter, um überhaupt diese Exponenten, diese Personen, wie Hanns Martin Schleyer zum Beispiel, in ihre Hände bekommen zu können, während die Dschihadisten ihren Kampf ja damit begründen, dass sie Ungläubige bekämpfen wollten und damit ja im Grunde genommen jeden umbringen können. Deshalb ist auch das Ziel ihrer Attentäter, möglichst viele Menschen auf einen Schlag einfach zu töten.
Das ist das zweite große Thema und die zweite große Differenz. Und das Dritte, was damit eng zusammenhängt, ist die weitgehende Unkalkulierbarkeit dieses modernen, islamisch verbrämten Terrorismus und dessen Terroraktionen. Denn man kann einfach, wenn bestimmte Vertreter des Dschihadismus sich eines Lkws bemächtigen oder einfach nur zu einem Messer greifen, überhaupt nicht mehr kalkulieren, wann und wo das geschieht.
Enorm im Hintertreffen
Das heißt, die Sicherheitskräfte sind einfach enorm im Hintertreffen. Das, was man früher eigentlich, zu der Zeit, als jemand wie Horst Herold Präsident des Bundeskriminalamts war – und mit seinen Methoden konnte er eigentlich vorhersagen, wer etwa wann als nächstes einen Anschlag verüben würde. Der hatte zum Beispiel dem 1977 ermordeten Generalbundesanwalt Siegfried Buback sozusagen vorhergesagt, dass er der nächste sein würde, der im Visier der RAF sich befinden würde. Und das ist ja dann auch schreckliche Wahrheit geworden.
von Billerbeck: Das habe ich in Ihrem Buch gelesen, dass er ihm sogar Fotos von RAF-Terroristen gezeigt hat: "Das sind Ihre Mörder." Aber wenn Sie jetzt sagen, das ist heute ein unkalkulierbarerer Terrorismus, der jeden treffen kann – das Gefühl haben ja viele Menschen, und zwar an ganz verschiedenen Orten auf dieser Welt – heißt das, der Terrorismus der RAF war kalkulierbar?
Kraushaar: Er war tendenziell kalkulierbar. Natürlich letztlich auch nicht hundertprozentig. Das ist natürlich auch wiederum eine leichtfertige Vorstellung, das glauben zu wollen.
Also man kann die Schwierigkeit auch daran erkennen, dass zum Beispiel im November 1976 der ehemalige Rechtsanwalt Siegfried Haag, der damals sozusagen der Spitzenmann der RAF war, bei seiner Verhaftung alle möglichen Papiere dabei hatte. Da waren dann die ganzen Pläne für das Terrorjahr 1977 bereits ausformuliert.
SB stand für Siegfried Buback
Aber die waren so verschlüsselt, dass man das dennoch nicht wirklich hat entziffern können, dass zum Beispiel "SB" als Name für eine bekannte Margarinesorte, dass damit Siegfried Buback gemeint war, obwohl das heute eigentlich einem jeden wie Schuppen von den Augen fallen müsste, war man damals im Bundeskriminalamt nicht auf die Idee gekommen, das so zu dechiffrieren. Also man hatte damit durchaus auch Schwierigkeiten. Es gab dann in der Konkretion doch eine Reihe von Umsetzungsproblemen.
von Billerbeck: Ich habe ja schon am Anfang gesagt, dass der Begriff Terrorismus heute ja fast inflationär benutzt wird, und zwar nicht nur den IS betreffend. Ich erinnere an die Reaktionen auf die Proteste gegen den G20-Gipfel in Hamburg, da ist dann auch immer von "linkem Terror" die Rede gewesen. Oder Erdogan und Putin benutzen ihn auch für politische Gegner. Was meinen Sie, wer sollte diesen Begriff tunlichst vermeiden?
Kraushaar: Man sollte sich angewöhnen, dass dieser Begriff "Terrorismus" wirklich nur unter bestimmten Kriterien auch wirklich angewendet oder verwendet wird. Was wir gegenwärtig ja erleben, ist eine hochgradige Instrumentalisierbarkeit dieser Kategorie. Sie haben ja die Beispiele Putin und Erdogan angesprochen. Bei Erdogan zum Beispiel ist das ja so weit gegangen, dass er all diejenigen, die bei seiner Volksabstimmung gegen seinen Entwurf gestimmt haben, als terroristisch verdächtigt hat. Das ist ja unglaublich eigentlich. Insofern untergräbt man ja im Grunde genommen jedes demokratische Abstimmungsverfahren.
Kategorie der völligen Legitimationsunfähigkeit
Ich glaube, dass man grundsätzlich wissen muss, dass, wenn man von Terrorismus spricht, dass man es mit einer Kategorie der völligen Legitimationsunfähigkeit von Akteuren zu tun hat. Das heißt, wenn jetzt zum Beispiel, wie das von Bundesinnenminister de Maizière getan worden ist oder auch von dem Kanzleramtsminister Altmeier, wenn im Zusammenhang dieser marodierenden Akteure in Hamburg Anfang Juli davon gesprochen worden ist, dass das Terroristen seien, dass sie verglichen werden sollten mit dem Islamischen Staat und dem Nationalsozialistischen Untergrund, dann halte ich das für nicht gerechtfertigt. Einfach deshalb, weil es einen doch erheblichen Unterschied gibt zwischen dem, was man mit den unmittelbar mörderischen Aktionen von Terroristen in Verbindung bringt, und dem, was man mit der Zerstörung von Autos und sonstigen Schädigungen von Objekten in Verbindung bringt. Da gibt es einfach einen qualitativen Unterschied.
von Billerbeck: Also, Differenzierungen waren das von Wolfgang Kraushaar. Zwischen dem Terror der RAF und der Benutzung des Begriffs für heutige Ereignisse. Ich danke Ihnen, Herr Kraushaar, für das Gespräch!
Kraushaar: Sehr gern!
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