Nicht in Hysterie verfallen
Die Angst oder zumindest die Sorge vor weiteren Anschlägen ist allgegenwärtig. Aber gerade jetzt dürfen wir nicht in Hysterie verfallen, meint Marie Sagenschneider, Wortchefin von Deutschlandradio Kultur. Denn die größte Gefahr nach Terroranschlägen bestehe in einer Überreaktion.
Würzburg, München, Reutlingen, Ansbach. Das war geballt, das ist beängstigend. Dabei kann einem sehr mulmig werden. Vor allem, weil jeder von uns weiß: diese Taten Einzelner sind kaum zu verhindern, sie können leicht ausgeführt werden und jeden von uns treffen. Aber es rechtfertigt nicht die Hysterie, die zum Teil um sich greift: Der erwartbare Ruf nach mehr Sicherheit, nach Einsatz der Bundeswehr im Inneren. Wir müssen nur nach Frankreich schauen, wo der Ausnahmezustand immer noch aufrechterhalten wird, die Aufrüstung voranschreitet. Hat es die Tat in Nizza und die Ermordung eines Geistlichen verhindert? Fühlen sich die Franzosen dadurch sicherer? Wahrscheinlich nicht.
Oder die Diskussionen über das ach so gefährliche Darknet. Ja, es werden dort Waffen gehandelt und Verbrechen verabredet, aber verschlüsselte Netzwerke dienen auch dem Schutz von Menschen, werden zum Beispiel von Menschenrechtsorganisationen und Whistleblowern genutzt. Wir sollten nicht so tun, als wären unsere Probleme gelöst, wenn es das Darknet nicht mehr gäbe. Im Übrigen müssen die Waffen, die im verborgenen Bereich des Internets gehandelt werden, irgendwann dann doch auf altem, analogem Weg den Besitzer wechseln. Das Bundeskriminalamt schätzt diesen Handel ohnehin als nicht sehr bedeutend ein und hat Mittel, dagegen vorzugehen. Mehr als 80 Verfahren führt das BKA zurzeit wegen möglichen Waffen- und Sprengstoffhandels im Darknet.
Kein Generalverdacht gegen Flüchtlinge
Am bizarrsten ist allerdings der Generalverdacht gegen Flüchtlinge, der suggeriert: Hier handelt es sich um Kriminelle, um eine Bedrohung, die wir uns selbst ins Land geholt haben, die liberale und humane Flüchtlingspolitik der Kanzlerin ist die Ursache allen Übels.
Auch Flüchtlinge begehen Gewalttaten, keine Frage. Aber schauen wir genauer hin. In Reutlingen handelt es sich um eine Beziehungstat. Wäre ihr auch so viel Brisanz zugestanden worden, wenn sie nicht in dieser kurzen Folge von Gewaltakten stünde? Die folgenschwerste Tat, der Amoklauf in München, wurde von einem jungen Mann verübt, der hier aufgewachsen ist. Der in einem Video, das die Polizei für authentisch hält, sagt: "Ich bin Deutscher."
Bleiben zwei Attentate mit offenbar terroristischem Hintergrund, verübt von jungen Männern, die als Flüchtlinge zu uns gekommen sind. Das ist schlimm und darf nicht verharmlost werden – aber in Relation zu den vielen Hunderttausenden Flüchtlingen, die im vergangenen Jahr Deutschland erreicht haben, um hier Schutz vor Krieg und Terror zu finden, taugt es nicht, gleich eine gesamte Gruppe zu kriminalisieren.
Und lässt auch völlig außer Acht, dass die meisten Anschläge in Europa von Menschen verübt wurden, die in Europa aufgewachsen sind.
Wir dürfen uns nicht selbst hysterisieren
Wir müssen cool bleiben, die Relation wahren und aufhören, uns selbst zu hysterisieren. Das ist nicht leicht, angesichts der Nachrichtenflut, der wir ausgesetzt sind und uns selbst ja auch aussetzen. Nachrichten, Bilder, Gerüchte, Falschmeldungen im Sekundentakt verstärken das Gefühl der Bedrohung. Aber wir müssen lernen damit umzugehen und für uns auszuloten: Welchen Quellen kann ich vertrauen? Und wieviel Informationen will ich mir überhaupt zumuten?
Auch wir Medien stellen uns diese Fragen. Le Monde hat entschieden, künftig keine Bilder mehr von Terroristen abzudrucken, andere verpixeln sie. Die Nachnamen von Tätern zu nennen oder vor deren Häusern zu filmen verbietet sich für seriöse Medien ohnehin.
Keine Heroisierung von Tätern
Warum? Weil keine Heroisierung von Tätern provoziert und dadurch Nachahmer ermuntert werden sollen. Aber auch, um Distanz zu schaffen. Eine Distanz, mit der wir uns dann zum Beispiel klar machen können, dass es in Bayern immer noch mehr Verkehrstote als Anschlagsopfer gibt. Eine Distanz, die wir alle benötigen, um die gefühlte Bedrohung in eine sachliche Debatte darüber zu lenken, welchen Preis wir für unsere freiheitliche Lebensweise zahlen wollen.