Beistand heißt nicht Gefolgschaft
Die Franzosen erwarten nach den Terroranschlägen von Paris zu Recht Beistand von ihren europäischen Nachbarn, meint Ernst Rommeney. Aber Widerspruch sei trotzdem erlaubt. Insbesondere bei der Formulierung von Präsident Hollande, dass wir uns im Krieg befänden.
Ruhe sei die erste Bürgerpflicht. Aus dem Appell eines preußischen Ministers an die Berliner nach Napoleons Sieg ist ein geflügeltes Wort geworden. Heute wäre damit Gelassenheit gemeint, Besonnenheit, Vernunft, die sich selbstbewusst und situationsgerecht verhält, auch Raison genannt.
Sie sei in aggressiven Zeiten die beste Waffe, erinnerte dieser Tage Gila Lustiger und zitierte damit Georges Danton, einen enttäuschten Mitstreiter der französischen Revolution. Und man versteht, wenn die Schriftstellerin sogleich einräumt, dass es ihr und ihren Nachbarn in Paris nicht recht gelinge, Fassung zu bewahren, da sie fassungslos sind - nach brutalen Anschlägen und unter einer andauernden diffusen Bedrohung.
Solidarität drückt Werte und Engagement aus
Sollten Szenarien all der klugen Experten zutreffen, dann werden sich alle wappnen müssen, nicht nur die Bürger von Paris, sondern vielerorts, um heil eine ungewiss lange kritische Phase zu überstehen, ohne zudem das gesellschaftliche Klima kippen zu lassen. Zu zeigen, diese Raison verstanden zu haben, das war so wichtig an der Solidarität mit den Franzosen – schon im Januar und erst recht jetzt im November.
Und all die Menschen, die entlang der Balkanroute und hierzulande in den Aufnahmezentren seit Monaten freiwillig helfen, Flüchtlinge zu empfangen und zu versorgen, haben uns die praktische, die zupackende Seite bürgerlicher Raison beispielhaft vorgeführt.
Auch Frankreich erwartet von seinen europäischen Partnern, allen voran den deutschen, Beistand. Und darin sollten wir sie weder persönlich noch politisch enttäuschen. Nur Raison des Beistandes verlangt nicht Gefolgschaft. Die französische Regierung mag in diesen Tagen und Wochen anders ticken als die deutsche. Sie steht ja unter einem anderen Druck.
Es geht nicht um Krieg, sondern um organisierte Kriminalität
Doch ist von uns durchaus zu widersprechen: Wir befinden uns nicht im Krieg und müssen in keinen Krieg ziehen. Vielmehr haben wir uns gegen Terror zu wehren, einer besonders üblen Form organisierter Kriminalität.
Deren Motive mögen die Strafverfolger klären, politisch sind sie dagegen nicht erheblich – ganz anders als ihre Gewalt und deren Folgen. Unser Lebensstil, unsere Werte werden nicht wirklich von außen angegriffen. Wir selbst haben es selbst in der Hand, sie zu bewahren.
Mit der Idee von einem gemeinsamen Europa meinten die Altvorderen nicht, Jahrzehnte bis zum nächsten Krieg zu überbrücken. Sie wollten erzwingen, künftig soziale, wirtschaftliche und politische Konflikte friedlich zu lösen – mit all den langwierigen demokratischen, bürokratischen oder diplomatischen Prozessen, für die Politiker von besorgten Bürgern und skandalisierenden Journalisten gemeinhin nur verachtet werden.
Denn dieses Europa wurde geschaffen, um seine Probleme zu lösen und an ihnen zu wachsen. Das ist europäische Raison.
Von Berlin werden europäische Initiativen erwartet
Anstatt Schlagbäume niedersausen zu lassen und nationalen Maschendraht aufzurollen, sollte das Versprechen des Schengen-Abkommens erfüllt werden, gemeinsam die Außengrenzen zu schützen und auch gemeinsam innere Sicherheit zu gewährleisten. Und sicher kann man von Berlin erwarten, dass es mit seinen Expertenstäben vorangeht, Initiativen und Vorschläge entwickelt – auch für das Krisengebiet Syrien-Irak.
Außenpolitische Raison würde allerdings auch verlangen, sich mit Leuten an den Tisch zu setzen, deren Interessen von europäischen Grundwerten weit entfernt sind, würde zudem langen Atem verlangen, einen Friedenprozess anzustoßen, der ebenso schwierig und zeitraubend werden dürfte wie der jüngsten Atomkompromiss mit dem Iran.
Und sollte Paris tatsächlich von Berlin einfordern, sein militärisches Engagement in Afrika oder im Nahen Osten zu unterstützen, dann wäre es angebracht – parallel dazu, ganz grundsätzlich die Spielregeln gemeinsamer Militäreinsätze zu klären.
Wenn also Ruhe die erste Bürgerpflicht ist, dann sollte Handeln - aber eben angemessenes - stets die zweite sein.