"Das ist eine Facebook-Intifada"
In Israel sterben wieder Menschen durch Gewalt - junge Palästinenser greifen zum Messer, israelische Sicherheitskräfte zur Schusswaffe. Für den Historiker Tom Segev ist der Frieden nur noch eine Illusion. Er wirft beiden Lagern vor, alles immer nur schlimmer zu machen.
Der Historiker Tom Segev wirft Israelis und Palästinensern "unverantwortliche Hetze" vor – die dazu führt, dass sich die Situation in Jerusalem noch weiter "brutalisiert". Im Deutschlandradio Kultur wertete Segev die sich häufenden Messer-Angriffe junger Palästinenser auf Israelis als "Facebook-Intifada". Es gehe hier um "junge Leute", die keinen Terrororganisationen angehörten und sich zu ihren Taten gegenseitig über soziale Netzwerke ermunterten. Den Politikern auf beiden Seiten warf Segev vor, zu hetzen. Sie versuchten, die Situation für sich zu instrumentalisieren und machten diese damit noch viel schwieriger. Konkret nannte er den israelischen Regierungschef Netanjahu, Palästinenserpräsident Abbas und den Bürgermeister von Jerusalem, Barkat, der dazu aufgerufen hatte, offen Schusswaffen zu tragen. Der Frieden sei in Israel schon lange eine Illusion, sagte Segev.
Das Interview im Wortlaut:
Nana Brink: Seit September erschüttert eine Welle von Gewalt Israel, fast täglich berichten wir von Messerattacken in Bussen, Autos, die in Menschenmengen rasen, von Schüssen auf offener Straße. Wütende palästinensische Jugendliche verüben viele dieser Attacken. Und wie wir das alles einschätzen sollen, das will ich jetzt den israelischen Historiker und Journalisten Tom Segev fragen. Ich erreiche ihn in Jerusalem, einen schönen guten Morgen!
Tom Segev: Ja, guten Morgen Ihnen auch!
Brink: Wie geht es Ihnen gerade, was sehen Sie, was spüren Sie, wenn Sie durch die Straßen in Jerusalem gehen?
Segev: Sehr auffallend ist, dass die Straßen ziemlich leer sind, die Cafés ziemlich leer, die Straßenbahnen von Jerusalem fast leer. Das ist eine Terrorwelle, die Angst und leider auch Hass auslöst, und da denken viele Menschen, dass sie am besten zu Hause bleiben.
Es gibt zum Beispiel Angst um die Kinder in Kindergärten, es gibt Familien, die private Sicherheitsfirmen anstellen, um die Kinder zu beschützen. Also, es ist keine gute ... Es ist keine sympathische Atmosphäre.
Brink: Es ist ja auch so, der Jerusalemer Bürgermeister Nir Barkat hat ja schon zu den Waffen gerufen. Das heißt, zu den Waffen muss man vielleicht ein bisschen anders formulieren, er hat dazu aufgerufen, sich zu verteidigen. Und wir sehen auch Bilder von Leuten, die nun auch offen ihre Gewehre tragen. Sehen Sie das auch?
Die Politiker beider Seiten instrumentalisieren den Konflikt
Segev: Ja, es gibt manche Menschen, die Gewehre, die sie beim Militär hatten, zu Hause haben, sie sind vielleicht noch Soldaten. Ich glaube, das ist ein ziemlich unverantwortlicher Aufruf, denn wenn man nicht alltäglich trainiert wird in der Benutzung von Waffen, dann soll man sie auch nicht herumtragen. Also, ich glaube, das ist kein nutzvoller Aufruf.
Aber das ist auch ein Beispiel dafür, wie alle Politiker die Situation für ihre Zwecke benutzen, erst Netanjahu eigentlich jeden Tag mit sehr, sehr scharfen Äußerungen, die nicht dazu bringen können, dass die Situation sich beruhigt, und gestern Abu Mazen auch, der palästinensische Präsident Abbas in einer sehr scharfen Rede.
Also, das macht die Situation natürlich noch viel schwieriger. Und was im Moment notwendig ist, ist wirklich, die Atmosphäre zu beruhigen. Aber die Äußerungen der Politiker brutalisieren die Situation noch mehr.
Brink: Sehen wir denn eine dritte Intifada, kann man das so sagen?
Nach 50 Jahren Unterdrückung kommt es erneut zur Explosion
Segev: Man kann es sagen. Also, es ist keine Intifada wie die zwei ersten Intifadas es waren, das ist eine Facebook-Intifada, das sind junge Leute, vielleicht 19, 18, 19, einer sogar 13, die sich gegenseitig organisieren durch Facebook und ermuntern. Und das sind keine Mitglieder von bekannten Terrororganisationen, sondern private Jungs, die das machen.
Und das kann man auch daran sehen, dass sie keine heißen Waffen benutzen, sondern Messer im Allgemeinen oder Schraubenzieher. Und ziemlich spontan ist das auf einmal aufgekommen. Im großen historischen Sinne kann man natürlich sagen, irgendwann nach 50 Jahren von Eroberung und Unterdrückung explodiert das.
Da sind ja auch schon früher mal solche Wellen gewesen. Aber ich glaube, konkret hängt es wirklich zusammen mit der Situation auf dem Tempelberg, eine sehr, sehr empfindliche Situation, ungeheuer sensibel, auch weil religiös eben. Und es gibt immer mehr israelische fanatische Menschen, die auf den Tempelplatz jetzt gehen und dort beten und provokativ beten. Und das war früher nicht.
Brink: Also die das Feuer auch schüren, wenn ich Sie richtig verstehe?
Jerusalem ist ein religiöses Pulverfass
Segev: Ja, daher hat es jetzt begonnen. Und das sind wirklich ... Das kann man oft im Ausland nicht verstehen, dass Jerusalem wirklich ein religiöses Pulverfass ist und jede kleine Provokation, die irgendwie mit der Religion zu tun hat, sofort so eine Explosion auswirkt.
Brink: Das heißt, Sie sagen, das ist also die Hoffnungslosigkeit der ganz jungen palästinensischen Generation, die sich da ausdrückt?
Segev: So ist es, ja, das ist eine Generation, die also – das kann man in den Bildern sehen, die sind vielleicht 18, 19 – und die sehen überhaupt keine Hoffnung.
Es gibt seit Jahren keine Verhandlungen mehr zwischen Israelis und Palästinensern. Also, als es zum letzten Mal Verhandlungen gab, waren diese Jungs vielleicht zwölf oder 13 und jetzt sind sie 19 und es hat sich nichts geändert. Und sie fragen sich, was soll mal eigentlich aus ihnen werden?
Brink: Sie sagen auf der einen Seite, diese Hoffnungslosigkeit dieser jungen Generation, auf der anderen Seite dann eben ein Ministerpräsident wie Netanjahu, der eine Politik der harten Hand verspricht. Ist also der Frieden eine komplette Illusion geworden?
Der Frieden ist in Israel schon lange nur noch Illusion
Segev: Der Frieden ist eigentlich schon lange eine Illusion, aber es ist immer so, dass man auch ohne Frieden die Situation managen kann, besser oder schlechter. Und im Moment wird sie sehr schlecht gemanagt.
Wenn jetzt zum Beispiel die Rede von ... Also, die Reden von Netanjahu, die sind bestimmt ein Zeichen für sehr schlechtes Management, aber wenn Sie die Rede von Präsident Abbas, der palästinensische Präsident, von gestern sehen, der hat von dem Mord eines 13-jährigen Jungen gesprochen und die Bilder von ihm im Fernsehen gezeigt. Der Junge lebt! Er ist im Krankenhaus, er ist zwar verwundet, ein 13-jähriger Junge, ein arabischer 13 Jahre alter Junge, der einen israelischen 13-jährigen Jungen erstochen hat. Und der palästinensische Junge lebt noch! Also, es ist wirklich unverantwortliche Hetze auf beiden Seiten.
Brink: Der israelische Historiker und Journalist Tom Segev und seine Einschätzungen in Jerusalem. Vielen Dank!
Segev: Danke Ihnen auch!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.