Terrorismus im Nordkaukasus

Von Gesine Dornblüth |
Die mutmaßlichen Boston-Attentäter sind Tschetschenen, die als Kinder kurz in der Nachbarrepublik Dagestan gelebt haben. Ob der ältere der beiden Brüder, Tamerlan Zarnajev, bei einem Besuch seiner Heimat vor einem Jahr radikalisiert wurde, wird kontrovers diskutiert.
"In Dagestan ist der geistliche Führer der Muslime der Republik, Scheich Said Afandi, ermordet worden. Sechs weitere Anwesende starben."

Beinahe täglich melden die russischen Medien Anschläge in der russischen Teilrepublik Dagestan im Nordkaukasus. Dort kämpfen islamistische Gruppierungen, kriminelle Banden und Regierungstruppen gegeneinander. Meist richten sich die Attentate gegen die Polizei und gegen Geistliche, die zwischen gemäßigten und radikalen Muslimen vermitteln wollen. Behörden gehen von etwa 200 Untergrundkämpfern aus, die sich in den Wäldern Dagestans verstecken. Vor allem Jugendliche schließen sich den Radikalen an.

Rizvan Kurbanow, Duma-Abgeordneter aus Dagestan, erklärt dies so:

"Besonders die jungen Leute können ihre Fähigkeiten in unserer Gesellschaft nicht einbringen. Dagestan hat prozentual mehr arbeitslose Jugendliche als jede andere Region in Russland. Die jungen Leute sind voller Energie, aber sie werden einfach nicht gebraucht."

Die Behörden stehen angesichts des Terrors unter einem enormen Druck. Bei sogenannten Antiterroreinsätzen erschießen die Eliteeinheiten die Verdächtigen oft, statt sie festzunehmen und der Justiz zu übergeben. Und sie verhaften auch Unschuldige und informieren die Angehörigen nicht. Die Radikalen nehmen diese Menschenrechtsverletzungen als Argument für ihren, wie sie es nennen, "gerechten Krieg" gegen den russischen Staat und angebliche Feinde der Muslime, erläutert Ekaterina Sokirjanskaja, Nordkaukasusexpertin der International Crisis Group:

"Im Nordkaukasus hat sich über die Jahre ein System illegaler Gewalt etabliert. Es hat System, Menschen gewaltsam verschwinden zu lassen, zu foltern, illegal festzunehmen. Die Leute werden gezwungen, terroristische Verbrechen oder Widerstandstätigkeit zu gestehen. Und für all das gibt es eine komplette Straflosigkeit. Was dazu führt, dass sich das ständig wiederholt."

"Globaler Dschihad" in Dagestan populär
In der Teilrepublik Tschetschenien richte sich der Terror vor allem gegen den russischen Staat, der als Besatzungsmacht empfunden werde, berichtet Sokirjanskaja. Im benachbarten Dagestan hingegen sei eher ein "globaler Dschihad" populär.

Der russische Topterrorist Doku Umarow, selbst ernannter Emir eines "Kaukasus-Emirats", hat erklärt, seine Feinde seien nicht nur Russland, sondern auch Amerika, England, Israel – all jene, die Muslime unterdrückten.

Aus den USA kommen Vermutungen, der ältere der beiden mutmaßlichen Attentäter von Boston, Tamerlan Zarnajev, habe während eines sechsmonatigen Aufenthaltes in Russland vor einem Jahr ein Trainingscamp für Terroristen im Nordkaukasus besucht und dort Anleitungen für den Anschlag erhalten.

Dass Umarow zu konkreten Anschlägen in den USA aufgerufen hat, ist bisher allerdings nicht bekannt. Russischen Medienberichten zufolge hat er sich von dem Attentat in Boston distanziert.
Ekaterina Sokirjanskaja hält es für möglich, dass Tamerlan Zarnajev in Dagestan
Sympathie für den "globalen Dschihad" entwickelt haben könnte. Dies seien aber Spekulationen. Sein Wissen für den Anschlag habe er sich ohne Weiteres im Internet besorgen können:

"Websites von Islamisten sind unter Jugendlichen im Nordkaukasus extrem populär. Dort kursieren Videoaufrufe von Untergrundkämpfern, und es gibt jede Menge Propaganda, Anleitungen, Bomben zu bauen, inclusive. Das ist alles frei verfügbar. Das müsste strenger reguliert werden, denn gerade in so fragilen Gesellschaften wie im Nordkaukasus ist die Jugend für destruktive Botschaften sehr empfänglich."

Bisher ist nicht bewiesen, dass die Wurzeln des Attentats von Boston im Nordkaukasus liegen. Doch dass der Terror die Grenzen des Nordkaukasus längst überschritten hat, ist eine Tatsache.
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