In Bedrängnis
Zehn Monate lang wurde der Franzose Nicolas Henin von Dschihadisten in Syrien als Geisel festgehalten und gefoltert - unter anderem von seinem Landsmann Mehdi Nemmouche. In vielen Orten Frankreichs vermuten Experten gewaltbereite Terrorzellen.
Im Mai fielen Schüsse im jüdischen Museum von Brüssel. Vier Menschen starben. Damals war nicht zu ahnen, dass der Fall ein Licht auf alle Stränge des internationalen Terrorismus werfen würde.
Der mutmaßliche Attentäter, Mehdi Nemmouche, ein junger Franzose, hatte sich den Dschihadisten in Syrien angeschlossen, schritt in Brüssel zur Tat, bevor er Ende Mai, eher zufällig, am Bahnhof von Marseille, mit Kalaschnikow und Propagandamaterial des sogenannten "Islamischen Staates" im Gepäck, gefasst wurde.
Heute ist bekannt, Nemmouche tötete nicht nur in Belgien, er folterte westliche Geiseln in Syrien, im Namen der Terrormilizen. Darunter den Franzosen Nicolas Henin, der zehn Monate lang gefangen war, bevor er Ende April mit drei anderen französischen Geiseln frei kam. Zunächst verbreitete auch Henin, aus Angst um andere und um seine Familie, möglichst milde Schilderungen seiner Gefangenschaft:
"Ich bin unheimlich froh“, alle Welt wiederzusehen, durch die Straßen von Paris zu gehen, das Leben wiedergefunden zu haben",
sagte Henin kurz nach seiner Freilassung dem Sender "France Info".
Ex-Geisel Henin gibt verspätet Details preis
Was Henin damals nicht sagt, ist, dass er gefoltert wurde, unter anderem von einer Gruppe radikalisierter Franzosen, darunter Mehdi Nemmouche. Dieses Geheimnis lüftete die Zeitung "Le Monde" vor einigen Tagen, brach damit ein Tabu und lockte auch die frühere Geisel aus der Reserve:
"Ja, Mehdi Nemmouche hat mich misshandelt", bestätigte Henin.
"Ich konnte hören, wie sie syrische Gefangene angingen, in dem Gebäude, in dem wir festgehalten wurden."
Im Untergeschoss eines ehemaligen Krankenhauses. 50 bis 80 Geiseln vermutet Henin, seien dort, zusätzlich zu den westlichen Geiseln, festgehalten worden, Ein Zellennachbar war der amerikanische Journalist James Foley, der Ende August von den Terroristen enthauptet wurde.
Den Attentäter von Brüssel, Nemmouche, beschreibt die französische Ex-Geisel als brutal, unberechenbar. Kein Täter aus tiefen, ideologischen Gründen, meint Henin.
"Eher einer, der nach Anerkennung sucht, deshalb hat er uns bei Gelegenheiten auch sein Gesicht gezeigt",
vermutet der französische Journalist.
Von einer "Hierarchie" der Geiseln berichtet Henin. Manche hätten schnell wieder gehen können, manche niemals. Wer das "Vater Unser" nicht aufsagen konnte, wurde als Jude eingestuft und war deutlich gefährdeter als die anderen. Britische Geiseln wurden zu Recherchen im internet und für Verhandlungen eingeteilt.
"Eine Gruppe, die keine Grenzen kennt"
Vor ihrer Freilassung wurden auch die französischen Geiseln eingeschüchtert, kein Medienkontakt, keine Details für die Öffentlichkeit - um sicherzustellen, dass diese Botschaft ankommt, wurde einem der französischen Journalisten im letztem Moment der Finger gebrochen.
"Wir haben es mit einem Feind, einer Gruppe von Terroristen zu tun, die keine Grenzen kennt und die jetzt territoriale Interessen verfolgt."
Paris ist, anders als 2003, zu Militärschlägen im Irak bereit. Staatspräsident Hollande reiste nach Bagdad, hält heute eine Internationale Konferenz ab, auch, weil Frankreich direkt bedroht ist.
"Der Strom an Terroristen und mutmaßlichen Attentätern ist heute viel größer als vor zehn Jahren."
Beschreibt Jean-Louis Bruguiere die Lage. Als Richter hat er in den vergangenen Jahrzehnten alle großen Terrorermittlungen begleitet.
"Das ist ein Tsunami, eine Welle, 20, 30 höchstend waren es früher, heute haben wir es mit 500, 1000 vielleicht mehr Terroristen zu tun."
Die zu Attentaten in Frankreich und Europa bereit sind.
Ehemaliger Premier de Villepin gegen Beteiligung an Luftschlägen
In der Gruppe der Ausländer, die sich dem Kampf der Terrorgruppen anschließen, stellen die Franzosen das größte Kontingent. Von Toulouse über Nizza, Avignon, selbst in den mittelgroßen Städten Frankreichs vermuten die Terrorexperten gewaltbereite Zellen.
Bruguiere, der für Frankreich in internationalen Gremien sitzt, sagt, der Irak-Krieg 2003 sei ein großer Fehler gewesen. Und noch einer hebt in diesem Sinne derzeit seine Stimme, der frühere Premierminister de Villepin, der sich vor elf Jahren bereits gegen ein Eingreifen im Irak stellte, sagte im Sender RTL, zur Absicht Frankreichs an Luftschlägen gegen die Terrormilizen teilnehmen zu wollen:
"Das ist eine absurde und gefährliche Entscheidung."
Und de Villepin warnt, wir werden die Terroristen damit erst Recht stärken, dort und vor allem hier, bei uns.