Die Weltgesellschaft im Bürgerkrieg
Wut, Trauer, Fassungslosigkeit – die menschlichen Reaktionen auf die Anschlagsserie von Paris sind unter dem unmittelbaren Eindruck der Taten emotionaler Natur. Doch auf Wut und Trauer folgt auch die Frage: Warum?
In "Sein und Streit" gehen wir der Frage nach, wie und unter welchen Voraussetzungen aufgewühlte Emotionalität in ruhiges Nachdenken und sinnvolles Schlussfolgern münden kann. Unser Studiogast ist der Soziologe Dirk Baecker.
Baecker betont im Gespräch, dass er sich selbst – als Wissenschaftler und Soziologe – durchaus als "eine Art Sensor" versteht, um "an sich herauszufinden, wie Gesellschaft auf einen solchen Terrorakt reagiert".
Angesichts des "scheinbar sinnlosen Ausbruchs von Gewalt" spricht er von einem "politischen Akt kriegerischen Handelns". Anschläge - wie jetzt in Paris - richteten sich nicht "gegen" die Gesellschaft, sondern fänden "in" der Gesellschaft statt, sofern wir Menschen uns als "Weltgesellschaft" verstünden.
"Weltordnungen, zu denen nicht alle zustimmen können"
Auf die Frage, ob wir uns nach den Anschlägen in Paris in einem Bürgerkrieg befinden, sagte Baecker:
"Wir befinden uns in einem Bürgerkrieg, wenn wir davon ausgehen, dass wir in einer Weltgesellschaft leben, die verschiedenste politische - nationale und internationale - Einrichtungen kennt, die auf eine Art und Weise Ressourcenzugriffe und Weltordnungen (...) praktiziert, zu denen nicht alle Bevölkerungsteile, die in dieser Weltgesellschaft vorzufinden sind, tatsächlich zustimmen können."
Die Perspektive der Weltgesellschaft ermögliche es, gleichsam aus der Innenperspektive über aktuelles kriegerisches Handeln nachzudenken:
"Eine Weltgesellschaft erlaubt es den Blick darauf zu werfen, ob wir gegenwärtig politische Mechanismen haben, alle Interessen und alle Schwierigkeiten und alle Befürchtungen und alle Erwartungen, die in dieser Weltbevölkerung vorkommen, auch mit einem angemessenen Platz zu versehen."
"Ein Bild von Konflikten, an denen wir selbst teilnehmen"
Für Baecker schließt sich daran die Frage an: "Wer könnte sich denn in welcher Art von Isolation befinden?"
Damit werfe man "eben keinen Blick mehr auf das 'Außen der Gesellschaft', sondern man wirft einen Blick auf die Gesellschaft selber, in der wir mittendrin sind und in der wir uns fragen müssen: Welche isolierenden Praktiken gegenüber bestimmten Bevölkerungsschichten, gegenüber bestimmten Religionen, gegenüber bestimmten sozialen Ordnungsformen, dem Patriarchat beispielsweise, praktizieren wir eigentlich in der dieser westlichen, in dieser aufgeklärten, in dieser universell gestimmten Gesellschaft?"
Auf diese Weise komme man "zu einem Bild von Konflikten, an denen wir selber teilnehmen. Und man kann sich fragen, welchen Part man spielt und wie lange man ihn noch so spielen möchte, will und muss, wie man ihn gegenwärtig spielt."