Warum Gewalt gegen Minderheiten nicht als Terror gilt
Wenn in den USA die Kirchgänger einer schwarzen Gemeinde erschossen werden, dann bezeichnen viele das als bloße Tragödie. Warum die Mehrheit selbst furchtbare Gewalt gegen Minderheiten nicht als Terror versteht - dieser Frage geht die Journalistin Sieglinde Geisel nach.
Terrorismus ist ein flackernder Begriff. Man könnte ihn zwar definieren: etwa als "Verbreitung von Schrecken zum Erreichen politischer Ziele". Doch diese Definition trifft auch auf Kriegshandlungen zu, und ebenso auf den Amoklauf eines Psychopathen, der im Wahn die Welt vom Bösen erlösen will. Ob ein Gewaltakt als Terrorismus interpretiert wird, entscheidet sich an der Person des Täters. So die gängige Meinung, wie die Debatten in den USA nach dem Angriff auf die schwarze Kirche in Charleston zeigen: Wäre der Täter ein Moslem gewesen, hätte man sofort von Terrorismus gesprochen, davon sind viele Kommentatoren überzeugt. Da Dylann Rooff aber ein christlicher Amerikaner ist, handelt es sich nur um ein "Hate Crime": ein rassistischer Massenmord aus Hass, kein terroristischer Angriff mit politischen Zielen.
Was an dieser Debatte nicht stimmt, ist die Perspektive. Denn die Frage, ob es sich bei einem Gewaltakt um Terrorismus handelt, lässt sich nicht anhand der Täter beantworten, sondern anhand der Opfer. Bezeichnend sind Statements wie: "Wir alle sind Amerikaner!" nach dem 11. September oder "Je suis Charlie" nach dem Attentat auf Charlie Hebdo in Paris. Diese Parolen sind weit mehr als eine bloße Solidaritätsbekundung. Wir treten sprachlich an die Stelle der Opfer, weil wir uns in ihnen wiedererkennen: Wir sind Amerikaner oder Charlie, weil es genauso gut uns hätte treffen können.
Terrorismus ist es, wenn wir alle Opfer sein könnten, weil sich der Angriff gegen die gesamte Gesellschaft richtet. Terrorismus könnte man also definieren als den Angriff einer Minderheit auf die Mehrheit. Beim Rassismus ist es dagegen genau umgekehrt: Hier geht es um den Angriff von Vertretern der Mehrheit auf Angehörige einer Minderheit. Die Parole "I am black" funktioniert nicht als Antwort auf den Massenmord von Charleston. Schwarze würden damit nur das Offensichtliche bekräftigen, und Weiße würden lügen, denn egal, wie solidarisch sie auch mit den Opfern sein mögen, es hätte eben nicht genauso gut sie treffen können.
Was Terror so gefährlich macht, ist die Paranoia, die er auslöst
Der Akt eines Rassisten ist nur für die Opfergruppe terroristisch, weshalb es auch fragwürdig ist, beim NSU in Deutschland von Terrorismus zu sprechen. Angesichts der Morde wäre kaum jemandem eingefallen zu sagen "Ich bin Enver Şimşek" oder "Ich bin Mehmet Turgut". Der NSU war keine tödliche Gefahr für die Mehrheitsgesellschaft, sondern ausschließlich für Migranten. Anders als Terror-Organisationen zielte der NSU nicht auf eine Veränderung der Machtverhältnisse: Dem Rassismus geht es darum, bestehende Machtverhältnisse zu zementieren.
Was den Terrorismus für eine Gesellschaft so gefährlich macht, ist nicht die Gefahr von außen, sondern die Paranoia, die er auslöst. Eine Gesellschaft, die sich bedroht fühlt, ist leicht zu manipulieren, und wie effizient sich der Terrorismusbegriff für Propaganda einsetzen lässt, kann man an den USA studieren. Nach 9/11 wurde die Gesellschaft durch Terrorwarnungen wie "Code Orange" hysterisiert. Dies machte die Kriegseinsätze des "war on terror" vielleicht erst möglich.
Noch etwas anderes hat der islamistische Terror gegen den Westen bewirkt: Er hat uns zu Rassisten gemacht. Der Islamismus hat einen neuen Typus von Terror geschaffen. Anders als beim politischen Terrorismus etwa der RAF oder der IRA geht es dem Islamismus um die Ablehnung der Moderne und damit um kulturelle Größen: um Lebensstil, um ein Menschenbild, um eine Art, die Welt zu sehen. Die Islamisten geben sich ostentativ fremd, in Religion, Gebräuchen und einem oft inszenierten Äußeren. Wir sind auf dieses Erscheinungsbild konditioniert: Wir reagieren reflexhaft, ohne nachzudenken. Dies führt dazu, dass jeder gläubige Moslem unter Terrorismusverdacht steht, weshalb von den Moslems nach jedem islamistischen Anschlag erwartet wird, dass sie sich davon distanzieren. Niemand erwartet dagegen von den weißen Amerikanern, dass sie sich von der Schreckenstat des Dylann Rooff distanzieren oder von den Deutschen, dass sie den NSU verurteilen. Für die Mehrheit gibt es keine Sippenhaft.
Sieglinde Geisel, 1965 im schweizerischen Rüti/ZH geboren, studierte in Zürich Germanistik und Theologie. Als Journalistin zog sie 1988 nach Berlin-Kreuzberg. Nach dem Mauerfall schrieb sie Porträts über die Metropolen Ostmitteleuropas und lebte vorübergehend in Lublin (Polen). Für die Neue Zürcher Zeitung war sie von 1994 bis 1998 Kulturkorrespondentin in New York, seit 1999 ist sie es in Berlin. Sie schrieb die Bücher "Irrfahrer und Weltenbummler. Wie das Reisen uns verändert" (2008) und "Nur im Weltall ist es wirklich still. Vom Lärm und der Sehnsucht nach Stille" (2010).