Testament des unbändigen Lebenswillens
Durch seinen Film "Shoah" wurde der französische Regisseur Claude Lanzmann weltweit als Dokumentarfilmer bekannt. Schwerpunkt seiner Arbeit war stets Geschichte und Schicksal des jüdischen Volkes. 350 Stunden Material hatte Lanzmann in über zehn Jahren für "Shoah" gedreht. Vieles davon fand in der Endfassung keinen Platz, weshalb er einzelne Interviews in separaten Filmen verarbeitete. Im Mittelpunkt von "Sobibor, 14. Oktober 1943, 16 Uhr" aus dem Jahr 2001 steht ein Interview, das Lanzmann bereits 1979 in Israel mit Yehuda Lerner geführt hatte.
Lanzmann / Lerner:
"Hatte Herr Lerner schon einmal getötet?"
"Nein. Ich hatte niemanden getötet."
Dies sind die ersten Worte seines Interviews mit Yehuda Lerner, mit denen Claude Lanzmann die Zuschauer in seinem Film "Sobibor, 14. Oktober 1943, 16 Uhr" konfrontiert. Kurz zuvor zeigt er ein Foto, auf dem Nazis an den Särgen ihrer Kameraden zu sehen sind. 16 deutsche Aufseher waren 1943 während des einzigen geglückten Aufstandes, der jemals in einem Konzentrationslager stattgefunden hat, getötet worden. Das freundliche Lächeln Lerners, das zunächst in hartem Kontrast zu seiner Äußerung steht, wird dem Zuschauer erst 18 Minuten später wieder begegnen.
Lanzmann: "Doch Museen und Gedenkstätten dienen dem Vergessen ebenso wie der Erinnerung. Hören wir Yehuda Lerners lebendiges Wort."
Wie "lebendig" Lerners Wort ist, wird erst im Verlauf des Films deutlich. In den folgenden zehn Minuten hört der Zuschauer Lerners Stimme aus dem Off zu Bildern aus Polen und Weißrussland, die Lanzmann Ende der 90er-Jahre drehte: Lerner erzählt seine Geschichte: Am 22. Juli 1942 wird der gerade 16-Jährige aus dem Warschauer Getto getrieben. Seine Familie wird nach Treblinka deportiert, Lerner bringt man mit anderen jungen Männern in ein "Arbeitslager", wie man ihm erklärt. Er flieht aus dem Lager, wird aber nach einigen Tagen gefasst und in ein anderes gebracht. Wenn Lerners Gesicht nach dieser "Vorgeschichte" wieder im Bild erscheint, hört man ihn sagen, dass er innerhalb von sechs Monaten aus acht Lagern geflohen war. Lanzmann fragt ihn, woher der Drang zur Flucht kam, und ob es denn so einfach gewesen sei, zu fliehen. Lerner erklärt:
"Wer leben will, für den ist nichts zu schwierig. Ich erkannte, dass es in diesen Lagern kein Leben gab. Alles war besser, als unter diesen Bedingungen zu leben."
Lerner kommt schließlich ins Getto von Minsk. In direkter Nachbarschaft zu diesem befindet sich ein Lager für jüdische Gefangene der Roten Armee. Da die Versorgung mit Nahrungsmitteln dort besser ist, wechselt Lerner heimlich zu den russischen Soldaten. Anfang September 1943 werden sie nach Sobibor gebracht. Als dort ein Aufseher nach 60 starken Männern aus der Gruppe fragt, meldet sich Lerner.
An dieser Stelle des Films bedient sich Lanzmann eines zunächst befremdlich wirkenden Effekts. Plötzlich erscheint eine Gruppe von Gänsen im Bild, deren Geschnatter Lerners Stimme übertönt. Erst in der Übersetzung erfährt der Zuschauer, dass die anderen Menschen aus dem Transport weggeführt wurden und Lerner kurz darauf das Geschnatter von Gänsen hörte. Dies dauert etwa eine Stunde, dann herrscht plötzlich Stille.
Lerner: "Die Deutschen, erfuhren wir später, hielten mehrere hundert Gänse. Und wenn die Juden [in den Gaskammern] zu schreien begannen, ließ man die Gänse laufen, damit sie mit ihrem Geschnatter die Schreie übertönten."
Nachdem sie erfahren hatten, dass Sobibor ein Vernichtungslager war, berät die Gruppe, was man tun könne. Von den Kindern, die als Schuhputzer bei den deutschen Aufsehern arbeiten, erfahren sie, dass das Lager bald aufgelöst werden soll. Nun muss alles sehr schnell gehen. Im Lager gibt es viele Handwerker, die für die Deutschen arbeiten. Man überzeugt die Lagerführung, dass es nötig sei, eine neue Baracke für diese Handwerker zu bauen. Für diese Arbeit werden die 60 Männer mit Äxten ausgestattet. Am 14. Oktober bestellen die verschiedenen Handwerker je einen Aufseher zu 16 Uhr in ihre Werkstätten, einen zweiten unmittelbar darauf um 16:05 Uhr. Man verlässt sich auf die sprichwörtliche deutsche Pünktlichkeit. An diesem Tag sitzen in jeder Werkstatt zwei mit Äxten bewaffnete Männer aus der Gruppe – darunter auch Lerner.
Lanzmann / Lerner:
"Hatte Herr Lerner schon einmal getötet?"
"Nein. Ich hatte niemanden getötet."
Als 55 Minuten nach Beginn des Films diese Frage zum zweiten Mal gestellt wird, fährt Lerner fort:
"Nein, nicht einmal eine Fliege. Ich und töten? (…) Ja, natürlich hatte ich große Angst, zu töten. Doch manchmal muss man eben Dinge tun, die man freiwillig nicht tun würde. Wir wussten, dass wir dort keine Wahl hatten. Man würde uns töten. Doch wir wollten nicht wie Schafe getötet werden. Wir wollten wie Menschen sterben."
Mit der Tötung des deutschen Aufsehers gibt sich Lerner seine Menschenwürde zurück. Indem er darüber spricht, widerlegt er den von Lanzmann im Film zitierten Irrglauben, dass es keinen jüdischen Widerstand in den KZs gegeben habe. Lerner will leben, unbedingt, und wenn nicht das, dann doch wenigstens bei dem Versuch sterben.
Wenn Lerner im Folgenden den Verlauf des Aufstandes detailliert schildert, wird der Dokumentarfilm zu einem Thriller. Man sieht die Anspannung durch Lerners Gesicht ziehen, als er diese Momente noch einmal durchlebt. Nachdem Lerner die Tötung der beiden deutschen Aufseher geschildert hat, fragt Lanzmann:
"Täusche ich mich, oder ist er gerade blass geworden?"
Lerner: "Natürlich, wenn man sich an so etwas erinnert, lässt einen das nicht kalt. Da war die Freude, es geschafft zu haben, und da waren die Tränen für all diejenigen, die dort ermordet wurden. ( ... ) So etwas erlebt man nur einmal. Es ist die Erfahrung von Leben und Tod."
Nach Lerners Bericht von seiner Flucht hört man nur noch Lanzmann, wie er sagt:
"Wir hören hier auf. Das ist ein sehr schönes Ende. Was danach kommt, ist ein Abenteuer der Freiheit."
Unmittelbar nach dem Aufstand ist Sobibor von den Deutschen demontiert worden.
Lanzmann (auf deutsch):
"Transporte in das Vernichtungslager Sobibor [ ... ]: April 42 aus Relowiec: 2.400, Zamosc: 300, Krychow: 250 ... ."
Am Ende des Films verliest Lanzmann fast acht Minuten lang eine Liste mit den Herkunftsorten und Zahlen der in Sobibor Ermordeten. Im Booklet zur DVD erklärt er, warum:
"Hätte ich Applaus gewollt, ich hätte aufgehört nach dem Satz 'Der Rest ist ein Abenteuer der Freiheit'. Da hätten sie geklatscht, der Saal hätte getobt. So aber erstarren sie."
In "Sobibor 14. Oktober 1943, 16 Uhr" entfaltet Lanzmann einen gewaltigen Spannungsbogen. Im Booklet zur DVD schreibt er, viele Kritiker hätten den Film mit Arbeiten von Hitchcock verglichen. In erster Linie aber ist dieser Film das Testament eines unbändigen Lebenswillens. Auch wenn die "Shoah" sein Ausgangspunkt ist, so erzählt dieser Film doch die Geschichte des Lebens.
Service:
Der Film Sobibor, 14. Oktober 1943, 16 Uhr von Claude Lanzmann ist in Deutschland bei Absolut Medien erschienen. Er ist 95 Minuten lang und in französischer und hebräischer Sprache mit deutschen Untertiteln. Auf der DVD befindet sich außerdem noch der Film "Ein Lebender geht vorbei", ein Interview mit dem Schweizer Maurice Rossel, der im Auftrag des Internationalen Roten Kreuzes im Jahre 1943 das Lager Theresienstadt besuchte.
"Hatte Herr Lerner schon einmal getötet?"
"Nein. Ich hatte niemanden getötet."
Dies sind die ersten Worte seines Interviews mit Yehuda Lerner, mit denen Claude Lanzmann die Zuschauer in seinem Film "Sobibor, 14. Oktober 1943, 16 Uhr" konfrontiert. Kurz zuvor zeigt er ein Foto, auf dem Nazis an den Särgen ihrer Kameraden zu sehen sind. 16 deutsche Aufseher waren 1943 während des einzigen geglückten Aufstandes, der jemals in einem Konzentrationslager stattgefunden hat, getötet worden. Das freundliche Lächeln Lerners, das zunächst in hartem Kontrast zu seiner Äußerung steht, wird dem Zuschauer erst 18 Minuten später wieder begegnen.
Lanzmann: "Doch Museen und Gedenkstätten dienen dem Vergessen ebenso wie der Erinnerung. Hören wir Yehuda Lerners lebendiges Wort."
Wie "lebendig" Lerners Wort ist, wird erst im Verlauf des Films deutlich. In den folgenden zehn Minuten hört der Zuschauer Lerners Stimme aus dem Off zu Bildern aus Polen und Weißrussland, die Lanzmann Ende der 90er-Jahre drehte: Lerner erzählt seine Geschichte: Am 22. Juli 1942 wird der gerade 16-Jährige aus dem Warschauer Getto getrieben. Seine Familie wird nach Treblinka deportiert, Lerner bringt man mit anderen jungen Männern in ein "Arbeitslager", wie man ihm erklärt. Er flieht aus dem Lager, wird aber nach einigen Tagen gefasst und in ein anderes gebracht. Wenn Lerners Gesicht nach dieser "Vorgeschichte" wieder im Bild erscheint, hört man ihn sagen, dass er innerhalb von sechs Monaten aus acht Lagern geflohen war. Lanzmann fragt ihn, woher der Drang zur Flucht kam, und ob es denn so einfach gewesen sei, zu fliehen. Lerner erklärt:
"Wer leben will, für den ist nichts zu schwierig. Ich erkannte, dass es in diesen Lagern kein Leben gab. Alles war besser, als unter diesen Bedingungen zu leben."
Lerner kommt schließlich ins Getto von Minsk. In direkter Nachbarschaft zu diesem befindet sich ein Lager für jüdische Gefangene der Roten Armee. Da die Versorgung mit Nahrungsmitteln dort besser ist, wechselt Lerner heimlich zu den russischen Soldaten. Anfang September 1943 werden sie nach Sobibor gebracht. Als dort ein Aufseher nach 60 starken Männern aus der Gruppe fragt, meldet sich Lerner.
An dieser Stelle des Films bedient sich Lanzmann eines zunächst befremdlich wirkenden Effekts. Plötzlich erscheint eine Gruppe von Gänsen im Bild, deren Geschnatter Lerners Stimme übertönt. Erst in der Übersetzung erfährt der Zuschauer, dass die anderen Menschen aus dem Transport weggeführt wurden und Lerner kurz darauf das Geschnatter von Gänsen hörte. Dies dauert etwa eine Stunde, dann herrscht plötzlich Stille.
Lerner: "Die Deutschen, erfuhren wir später, hielten mehrere hundert Gänse. Und wenn die Juden [in den Gaskammern] zu schreien begannen, ließ man die Gänse laufen, damit sie mit ihrem Geschnatter die Schreie übertönten."
Nachdem sie erfahren hatten, dass Sobibor ein Vernichtungslager war, berät die Gruppe, was man tun könne. Von den Kindern, die als Schuhputzer bei den deutschen Aufsehern arbeiten, erfahren sie, dass das Lager bald aufgelöst werden soll. Nun muss alles sehr schnell gehen. Im Lager gibt es viele Handwerker, die für die Deutschen arbeiten. Man überzeugt die Lagerführung, dass es nötig sei, eine neue Baracke für diese Handwerker zu bauen. Für diese Arbeit werden die 60 Männer mit Äxten ausgestattet. Am 14. Oktober bestellen die verschiedenen Handwerker je einen Aufseher zu 16 Uhr in ihre Werkstätten, einen zweiten unmittelbar darauf um 16:05 Uhr. Man verlässt sich auf die sprichwörtliche deutsche Pünktlichkeit. An diesem Tag sitzen in jeder Werkstatt zwei mit Äxten bewaffnete Männer aus der Gruppe – darunter auch Lerner.
Lanzmann / Lerner:
"Hatte Herr Lerner schon einmal getötet?"
"Nein. Ich hatte niemanden getötet."
Als 55 Minuten nach Beginn des Films diese Frage zum zweiten Mal gestellt wird, fährt Lerner fort:
"Nein, nicht einmal eine Fliege. Ich und töten? (…) Ja, natürlich hatte ich große Angst, zu töten. Doch manchmal muss man eben Dinge tun, die man freiwillig nicht tun würde. Wir wussten, dass wir dort keine Wahl hatten. Man würde uns töten. Doch wir wollten nicht wie Schafe getötet werden. Wir wollten wie Menschen sterben."
Mit der Tötung des deutschen Aufsehers gibt sich Lerner seine Menschenwürde zurück. Indem er darüber spricht, widerlegt er den von Lanzmann im Film zitierten Irrglauben, dass es keinen jüdischen Widerstand in den KZs gegeben habe. Lerner will leben, unbedingt, und wenn nicht das, dann doch wenigstens bei dem Versuch sterben.
Wenn Lerner im Folgenden den Verlauf des Aufstandes detailliert schildert, wird der Dokumentarfilm zu einem Thriller. Man sieht die Anspannung durch Lerners Gesicht ziehen, als er diese Momente noch einmal durchlebt. Nachdem Lerner die Tötung der beiden deutschen Aufseher geschildert hat, fragt Lanzmann:
"Täusche ich mich, oder ist er gerade blass geworden?"
Lerner: "Natürlich, wenn man sich an so etwas erinnert, lässt einen das nicht kalt. Da war die Freude, es geschafft zu haben, und da waren die Tränen für all diejenigen, die dort ermordet wurden. ( ... ) So etwas erlebt man nur einmal. Es ist die Erfahrung von Leben und Tod."
Nach Lerners Bericht von seiner Flucht hört man nur noch Lanzmann, wie er sagt:
"Wir hören hier auf. Das ist ein sehr schönes Ende. Was danach kommt, ist ein Abenteuer der Freiheit."
Unmittelbar nach dem Aufstand ist Sobibor von den Deutschen demontiert worden.
Lanzmann (auf deutsch):
"Transporte in das Vernichtungslager Sobibor [ ... ]: April 42 aus Relowiec: 2.400, Zamosc: 300, Krychow: 250 ... ."
Am Ende des Films verliest Lanzmann fast acht Minuten lang eine Liste mit den Herkunftsorten und Zahlen der in Sobibor Ermordeten. Im Booklet zur DVD erklärt er, warum:
"Hätte ich Applaus gewollt, ich hätte aufgehört nach dem Satz 'Der Rest ist ein Abenteuer der Freiheit'. Da hätten sie geklatscht, der Saal hätte getobt. So aber erstarren sie."
In "Sobibor 14. Oktober 1943, 16 Uhr" entfaltet Lanzmann einen gewaltigen Spannungsbogen. Im Booklet zur DVD schreibt er, viele Kritiker hätten den Film mit Arbeiten von Hitchcock verglichen. In erster Linie aber ist dieser Film das Testament eines unbändigen Lebenswillens. Auch wenn die "Shoah" sein Ausgangspunkt ist, so erzählt dieser Film doch die Geschichte des Lebens.
Service:
Der Film Sobibor, 14. Oktober 1943, 16 Uhr von Claude Lanzmann ist in Deutschland bei Absolut Medien erschienen. Er ist 95 Minuten lang und in französischer und hebräischer Sprache mit deutschen Untertiteln. Auf der DVD befindet sich außerdem noch der Film "Ein Lebender geht vorbei", ein Interview mit dem Schweizer Maurice Rossel, der im Auftrag des Internationalen Roten Kreuzes im Jahre 1943 das Lager Theresienstadt besuchte.